«Wie angenehm, dass es sie hier gibt!»
(Как приятно, что она здесь существует!)

Aleksandr Solženicyn* über die RBC, Zürich, 16. April 1975. Kopie einer Widmung aus dem Archiv der RBC. (ZB Zürich, Hs AR 10, M1)


* In diesem Beitrag erfolgt die Umschrift des russisch-kyrillischen Alphabets gemäss DIN 1460-1.

Gründungsjahre

Laut den Gründungstatuten bezweckte der Verein Russische Bibliothek Zürich die «Entwicklung und Leitung einer russischen belletristischen Bibliothek mit Bücherausgabe». (Bild: ZB Zürich, Hs AR 10, M5)

«Ueber vierzig Jahre schon besteht in unserer Stadt eine Institution, von der nicht viele Kenntnis haben, die aber in aller Stille eine wertvolle Kulturarbeit leistet.» So beschrieb Ella Studer, eine langjährige Mitarbeiterin des Vereins, am 15. Januar 1970 in der «Neuen Zürcher Zeitung» die Arbeit der Russischen Bibliothek Zürich. In der Tat versah der Verein, der ohne öffentliche Förderung auskam, innerhalb der slavischen und slavophilen Kreise in Zürich – und weit darüber hinaus – eine wichtige Funktion.

Die Idee, in Zürich eine russische Bibliothek zu gründen, kam im Umfeld der zahlreichen Russlandschweizerinnen und Russlandschweizer auf, die nach der Oktoberrevolution von 1917 oft unfreiwillig in die Schweiz zurückgekehrt waren. Mit einem Bestand von lediglich rund 400 Büchern eröffnete 1927 die Russkaja Biblioteka v Cjuriche (RBC) ihre Pforten. Das erste Lokal befand sich im Untergeschoss eines Hauses an der Weinbergstrasse 74.

Der Eröffnung der Bibliothek war die Gründung des gleichnamigen Vereins vorangegangen, der nur über geringe Mittel verfügte. Aus Rücksicht auf die finanzielle Lage seiner Mitglieder betrug die monatliche Abonnementsgebühr anfangs dennoch nur 1.50 Franken. Aus den Einnahmen mussten die Lokalmiete und die Neuanschaffungen gezahlt werden. Russischsprachige Literatur war damals in Zürich nicht einfach in der Buchhandlung erhältlich. Dennoch gelang es der RBC, in nur zwei Jahren den Bücherbestand auf rund 2000 Titel auszubauen.

«In den Bücherläden von Zürich gab es keine russischen Bücher. Man musste Kataloge aus Berlin, Paris und Prag kommen lassen, um die Bücher auszuwählen und zu bestellen.»

«Die Geschichte der Gründung der ‹Russischen Bibliothek›», anonym, 18. April 1975.
Typoskript aus dem Archiv der RBC. (ZB Zürich, Hs AR 10, M5)

Grand Bal Russe

Anzeige aus der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 10. November 1934.

Über Aktivitäten des Vereins, die über den Betrieb der Bibliothek hinausweisen, ist wenig bekannt. Eine Ausnahme bildet ein Wohltätigkeitsball, der Grand Bal Russe, den die RBC in den 1930er-Jahren in Zürich ausrichtete.

«Samstag, 10. November, 21 Uhr, findet im Hotel Baur au Lac der ‹Grand Bal Russe› statt. Es werden mitwirken: Carl Goldner und Paul Morgan sowie die Solisten des Stadttheaterballetts [...], ferner die Schweizer Meister des Salontanzes [...]. In den [...] dekorierten Räumen harren der Gäste Ueberraschungen verschiedenster Art. Der Reinertrag ist für den Hilfsfonds des Cercle Suisso-Russe und für die russische Bibliothek bestimmt.»

Voranzeige in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 7. November 1934.

Der Präsident des Verbandes russischer Emigranten hatte dem Vereinsvorstand die Organisation des alljährlich im Baur au Lac oder Dolder Grand stattfindenden Balls angeboten. Trotz einiger Bedenken – schliesslich hatte die RBC mit der Durchführung einer solch exklusiven Veranstaltung keine Erfahrungen – nahm der Vorstand das Angebot an.

Die aufwendig gestalteten Tanzveranstaltungen, auf denen es Cabaret-Vorstellungen und Tombolas gab, genossen einen sehr guten Ruf in der gehobenen Zürcher Gesellschaft. Beim Grand Bal Russe von 1934 fotografierte der berühmte Zürcher Fotograf Jakob Tuggener das illustre Treiben der Ballgesellschaft erstmals mit seiner Leica-Kamera. Er verfolgte das Thema über Jahre und verewigte es in seiner Serie der «Ballnächte».

Teilnehmerinnen des Bal Russe im Hotel Baur au Lac, Zürich, 1934, fotografiert von Jakob Tuggener. <br>(Bild: © Jakob Tuggener-Stiftung, Uster)

Sorgen und Lichtblicke

Die Gewinne aus dem Grand Bal Russe brachten vorläufig eine finanzielle Entlastung, doch nach einigen Jahren gab die RBC die Organisation des Balls auf. Anfangs 1938 bekannte der Vorstand in einem Schreiben an seine Mitglieder freimütig, dass die ersten zehn Jahre des Bibliotheksbetriebs eine «harte Zeit» gewesen seien. Er forderte dazu auf, die geleistete Kaution von je 5 Franken in eine Spende umzuwandeln.

Der Verein wandte sich zudem an den damaligen Zürcher Stadtpräsidenten Emil Klöti und erbat von der Stadt ein kostenloses oder doch zumindest günstiges Ladenlokal. Denn ohne diese Hilfe stünde zu befürchten, «dass die Bibliothek, die über einen wertvollen, in seiner Art in der Schweiz wohl einzigartigen Bücherbestand verfügt, [...] eingehen müsste.» Die RBC bat auch die Kantonale Erziehungsdirektion um Unterstützung, doch beide Vorstösse blieben vergebens.

Neben allen Schwierigkeiten gab es auch positive Entwicklungen, die vor allem die Anerkennung der Bibliothek betrafen. So verzeichnete das «Adressbuch der Stadt Zürich» die RBC seit 1943 in der Abteilung «Bibliotheken», neben dem Schweizerischen Sozialarchiv, der Pestalozzigesellschaft und der Zentralbibliothek. 1977 wurde sie auch in den Führer «Bibliotheken in Zürich» aufgenommen. Im gleichen Jahr feierte die Schweizer Presse das 50-jährige Bestehen des Vereins und auch in der Sowjetunion nahm man Notiz von der Bibliothek.

Adressbuch der Stadt Zürich von 1943, Umschlag und Auszug. (Bild: ZB Zürich)

Bibliotheksbetrieb

Das Eckhaus an der Freiestrasse 101, Zürich, 1945. <br>(Bild: Wolf-Bender’s Erben / Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich)

Ende der 1950er-Jahre bezog die RBC eine Wohnung an der Freiestrasse 101 in Zürich-Hottingen. Der bis dato konstante Monatsbeitrag von 1.50 Franken wurde auf 2 Franken erhöht. Die Bibliothek umfasste nun bereits mehr als 4000 Titel und war jeweils an einem Abend pro Woche geöffnet. Ehrenamtliche Mitarbeiterinnen – zumeist waren es Frauen – berieten die Besucherinnen und Besucher.

Der Bibliotheksbetrieb war simpel, aber effektiv: Die Mitglieder erhielten eine Karteikarte mit fortlaufender Nummerierung zugewiesen, auf der vermerkt war, ob die monatliche Gebühr entrichtet wurde. Bis zu drei Wochen konnten die Bücher entliehen werden. Der Leihvermerk wurde häufig einfach auf das Vorsatzpapier in den Büchern selbst gesetzt. Ein regelmässig aktualisierter Katalog, in dem die Titel in alphabetischer Reihenfolge gelistet waren, bot Orientierung.

«Jeden Mittwoch abend [sic] von 19.30 bis 21 Uhr herrscht Leben in dem
mit Büchern vollgestellten engen Raum.»

So beschrieb Ella Studer (1902-1992) die betriebsamen Abende in der RBC. Vor allem dieser einzigen gelernten Bibliothekarin unter den ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen war die praktische Organisation der Bibliotheksbestände zu verdanken. Studer, deren Familie ursprünglich aus St. Petersburg stammte, war mehr als dreissig Jahre lang die erste Chefbibliothekarin der Pestalozzigesellschaft.

Als besonderen Service verschickten die Mitarbeiterinnen der RBC Bücherpakete an Mitglieder in der ganzen Schweiz – ein Angebot, auf das viele zurückgriffen. Im Durchschnitt wurden 80 bis 100 Bände pro Abend ausgeliehen; mehr als die Hälfte davon wurde telefonisch angefordert und per Post versandt. Dabei gingen die Büchersendungen nicht nur an Privathaushalte; auch Sanatorien, Nervenheilanstalten und sogar eine Strafanstalt sowie ein Internierungslager erhielten Bücherpakete.

Ella Studer (ganz rechts) und Mitarbeiterinnen der RBC, 1983. <br>(Bild: Bellorini / ZB Zürich, Archiv RBC)

Mitglieder

Die RBC hatte für ihre Gründung aus privater Hand ein zinsloses Darlehen von 3000 Franken erhalten, mit der Auflage, dass 25 Mitglieder geworben würden – eine Vorgabe, welche der Verein schon im Gründungsjahr mehr als erfüllte. Als er sich 1983 auflöste, umfasste das Mitgliederverzeichnis 883 Einträge. Es kam allerdings vor, dass die Nummern ausgetretener oder verstorbener Mitgliedern neu vergeben wurden; zudem waren unter einer Nummer nicht selten mehrere Personen, etwa Ehepaare, verzeichnet.

Karteikarte des ersten Mitglieds der RBC Elena Dorf. <br>(Bild: ZB Zürich, Hs AR 10, F5)

Die Gründungsmitglieder des Vereins waren Russlandschweizerinnen und Russlandschweizer. Doch schon bald gehörten auch emigrierte Russinnen und Russen sowie Angehörige anderer slavischer Nationen zu den Mitgliedern, ebenso wie Schweizerinnen und Schweizer, die Russisch sprachen oder es lernen wollten. Der Grossteil der Mitglieder kam aus Zürich, einige wohnten in Bern, Genf, Lausanne, Locarno oder Solothurn.

Der Verein war politisch ungebunden und umfasste Mitglieder unterschiedlicher Lager, von prosowjetischen und demokratischen Positionen bis zu antibolschewistischen und monarchistischen Anschauungen. Unter ihnen fanden sich Geistliche und Professoren, Ingenieure und Ärztinnen, Büroangestellte und Elektriker, eine Opernsängerin und ein Balletttänzer. Für viele stellte der Besuch der RBC eine Möglichkeit dar, sich mit der verlorenen Heimat zu verbinden.

Zahlreiche Mitglieder hatten bewegte Biografien, die von den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts beeinflusst waren. Einige hinterliessen Spuren in der Stadtzürcher Geschichte, andere wirkten auch weit darüber hinaus. Im Folgenden werden exemplarisch fünf Mitglieder der RBC vorgestellt.

Paulette Brupbacher (1880–1967)

Zu der Gruppe der politisch links engagierten Mitglieder, die sich lebhaft für die Entwicklungen in der Sowjetunion interessierten, gehörte die Anarchistin, Ärztin und Frauenrechtlerin Paulette Brupbacher. Der Brupbacherplatz in Zürich ist nach Paulette und ihrem Ehemann Fritz Brupbacher (1874–1945) benannt.

Als Pelta Rajgrodskaja in der heutigen Republik Belarus geboren, übersiedelte sie mit ihrem ersten Ehemann in die Schweiz – denn dort war es ihr als Frau möglich, zu studieren. Nach einem Studium der Philosophie in Bern absolvierte sie ein Medizinstudium in Berlin und Genf. 1924 heiratete sie ihren zweiten Ehemann, den Arzt und Anarchisten Fritz Brupbacher. Gemeinsam unterhielten sie eine Arztpraxis im Zürcher Arbeiterviertel Aussersihl. Nach dem Tod ihres Mannes führte sie die Praxis bis 1952 weiter.

Während Fritz bereits 1927 der RBC beitrat, war Paulette erst ab 1944 als Mitglied vermerkt. Sie schenkte der Bibliothek mehrere Bücher aus ihrem Besitz.

Paulette Brupbacher-Raygrodsky, um 1920. <br>(Bild: Schweizerisches Sozialarchiv, <br>Sozarch_F_Fa-0009-34)

Boris Dreiding (1893–1954)

Zu den ersten Mitgliedern der RBC gehörte Boris Dreiding, ein Kriegsgefangener, der in Zürich eine Parfümerie-Dynastie begründete.

Dreiding stammte aus der heutigen Republik Moldau. Schon früh interessierte er sich für Kosmetik und begann eine Ausbildung als Drogist. Als er sich entschied, nach Paris zu gehen, überraschte ihn der Beginn des Ersten Weltkriegs; bei der Durchreise wurde er gefangen genommen. Von einem österreichischen Internierungslager gelangte er in die Schweiz, wo er schnell Fuss fasste.

Boris Dreiding, Datum unbekannt. <br>(Bild: Osswald, Zürich)

Zunächst war Dreiding als Flaschenreiniger im Kolonialwaren-Geschäft von Ernst Osswald in Zürich tätig, verantwortete aber schon bald den gesamten Drogerie-Bereich. Dreiding stellte eigene kosmetische Produkte her, deren Rezepturen er – eingenäht im Saum seines Jacketts – bei der Flucht hatte retten können. 1921 eröffnete er seine erste Parfümerie an der Bahnhofstrasse 24, die noch heute (nun an der Bahnhofstrasse 17) besteht und nach seinem Förderer Osswald benannt ist.

Boris Dreiding (links) und Ernst Osswald (rechts) mit Angestellten vor dem Kolonialwarengeschäft, Datum unbekannt. (Bild: Osswald, Zürich)

Alja Rachmanova (1898–1991)

Unter den Mitgliedern der RBC befanden sich zahlreiche Autorinnen und Autoren, Publizisten und Übersetzerinnen. Zu ihnen gehörte die erfolgreiche Schriftstellerin Alja Rachmanova.

Als Galina Djurjagina wuchs sie in grossbürgerlichen Verhältnissen im südlichen Ural auf. In der Zeit des Russischen Bürgerkriegs floh die Familie nach Irkutsk. Djurjagina begann ein Psychologiestudium und heiratete den österreichischen Kriegsgefangenen Arnulf von Hoyer (1892–1970). 1926 wurde das Ehepaar aus der Sowjetunion ausgewiesen und liess sich in Österreich nieder. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs, in dem auch der einzige Sohn im Kampf gegen die Rote Armee gefallen war, floh das Paar in die Schweiz. Nach einem Aufenthalt in Winterthur lebten sie in Ettenhausen im Kanton Thurgau.

Über ihr entbehrungsreiches Leben, das von Flucht und Vertreibung geprägt war, führte Djurjagina stets Tagebuch. Ihre Aufzeichnungen boten ihr den Stoff für ihre autobiografischen Schriften, die ihr Ehemann aus dem Russischen ins Deutsche übersetzte. Mit ihren Bestsellern, die sie unter dem Pseudonym Alja Rachmanova veröffentlichte, erreichte sie zu Lebzeiten zahlreiche Leserinnen und Leser.

Mit dem Umzug nach Ettenhausen wurden Rachmanova und ihr Ehemann 1949 Mitglieder der RBC. In der Zentralbibliothek Zürich befinden sich neben Rachmanovas eigenen Büchern weitere Titel in slavischen Sprachen aus ihrem Nachlass.

Alja Rachmanova bei der Arbeit, 1930er-Jahre. (Bild: Minti Beer, München / Staatsarchiv Thurgau, StATG 9’43, 6.1.2/36)

Ivan Ilʹin (1883–1954)

Auch wenn sich die RBC zur politischen Neutralität bekannte, gehörten ihr viele russische Emigrantinnen und Emigranten an, die dezidiert antibolschewistisch eingestellt waren. Zu den kontroversesten Figuren gehörte der konservative Religions- und Staatsphilosoph Ivan Ilʹin, der lange Jahre in Zollikon lebte und ein aktives Mitglied der RBC war.

1918 wurde Ilʹin, der Rechtswissenschaften und Philosophie in Moskau studiert hatte, mit einer Schrift über den deutschen Philosophen Hegel promoviert. Im Russischen Bürgerkrieg engagierte er sich gegen die Rote Armee der Bolschewiki und wurde 1922 aus Sowjetrussland ausgewiesen. Auf einem der sogenannten «Philosophenschiffe» gelangte er nach Deutschland. 1925 erschien sein Hauptwerk «Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse».

Unter dem Eindruck der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ging Ilʹin 1938 in die Schweiz, wo er sich in Zollikon niederliess. Im Verborgenen arbeitete er an einer Verfassung für das post-kommunistische Russland, die eine religiös grundierte Autokratie vorsieht. Das wiedererwachte Interesse an seinen Theorien unter Vladimir Putin führte dazu, dass die sterblichen Überreste 2005 von Zollikon nach Moskau überführt wurden.

1940 wurde Ilʹin Mitglied der RBC, die er regelmässig aufsuchte. In den Beständen der RBC finden sich mehrere seiner Werke. Ausserdem schenkten er und seine Ehefrau Natalʹja der RBC Titel aus ihrer eigenen Sammlung.

Ivan Ilʹin, Datum unbekannt. <br>(Bild: anonym / Wikimedia)

Aleksandr Solženicyn (1918–2008)

Die RBC konnte sogar einige sowjetische Dissidentinnen und Dissidenten zu ihren Mitgliedern zählen. Der bekannteste unter ihnen war der Literaturnobelpreisträger Aleksandr Solženicyn. Während seines kurzen Aufenthalts in Zürich wurde er Mitglied der RBC.

Solženicyn war studierter Mathematiker. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte er in der Roten Armee, bis er im Februar 1945 von einem sowjetischen Gericht zu acht Jahren Haft und anschliessender Verbannung verurteilt wurde. Seine Zeit in den Arbeitslagern des Gulag verarbeitete er später literarisch. Die schonungslosen Schilderungen des sowjetischen Unrechtsregimes brachten ihm weltweite Berühmtheit. 1970 erhielt er den Literaturnobelpreis.

Nach dem Erscheinen seines epochalen Werks «Archipel Gulag» 1973 im Westen, wurde Solženicyn aus der Sowjetunion ausgewiesen. 1974 kam er mit seiner Familie nach Zürich, wo er unmittelbar Mitglied der RBC wurde. Nur zwei Jahre später liess er sich in den USA nieder, stand den westlichen Demokratien jedoch stets kritisch gegenüber. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kehrte er nach Russland zurück und erfuhr unter Vladimir Putin staatliche Anerkennung.

Der RBC schenkte er zwei Ausgaben von «Archipel Gulag». Die Bände sind heute verschollen; im Archiv der RBC befinden sich nur noch Kopien der Widmungen Solženicyns an den Verein, dessen Arbeit er sehr schätzte.

Aleksandr Solženicyn, 1974. <br>(Bild: anonym / Nationaal Archief Nederland)

Bestände

Rund 6000 Titel – feinsäuberlich in braunes Packpapier eingeschlagen – umfasste die RBC zum Ende ihres Bestehens hin. Neben einer reichen Auswahl von Unterhaltungsliteratur gehörten dazu geschichtliche und kulturgeschichtliche sowie landeskundliche Werke, Memoiren und Biografien und etwa 300 Kinderbücher.

Viele der Bücher stammten noch aus der Zeit des Zarenreichs. Es lässt sich unbestreitbar ein Hang zu den russischen Klassikern des 19. Jahrhunderts erkennen: So füllten die Werke von Fëdor Dostoevskij (1821–1881) und Lev Tolstoj (1828–1910) ganze Regalmeter.

Trotz der stets klammen Kassen bemühten sich die Bibliothekarinnen zudem, zeitgenössische Werke und Neuerscheinungen anzuschaffen. Auch hier galt der Anspruch der politischen Neutralität. Entsprechend erwarben sie neben Werken der Emigrantinnen und Emigranten auch solche der modernen Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der Sowjetunion.

Damit unterschied sich die RBC von den anderen historischen russischen Bibliotheken in der Schweiz, die im 19. Jahrhundert entstanden waren. Die russischsprachige Emigrantenliteratur, die Werke der sowjetischen Dissidentinnen und Dissidenten, aber auch der staatskonformen Literatinnen und Literaten des 20. Jahrhunderts umfassten diese folglich nicht.

Für die RBC wurden die Bücher teils neu, teils antiquarisch erworben; viele gelangten auch als Schenkungen in die Bibliothek. Davon zeugen Widmungen und Vermerke der Vorbesitzerinnen und Vorbesitzer. Kunstvoll gestaltete Exlibris und Stempel geben Hinweise auf die lange Wanderung mancher Bände. So stammen gleich mehrere Bücher in den Beständen der RBC aus der Stadt Harbin, einer ehemaligen russischen Gründung, die heute zur Volksrepublik China gehört.

Wer Russisch spricht, kann sich noch immer Bücher aus der Russischen Bibliothek Zürich ausleihen. Die folgenden Leseempfehlungen stehen beispielhaft für unterschiedliche Aspekte der Bestände.

Erich Maria Remarques «Im Westen nichts Neues»

Der Fokus der RBC lag auf der russischen Literatur. Allerdings verfügte die Bibliothek auch über Werke westlicher Autorinnen und Autoren in russischer Übersetzung. Dazu gehörten deutschsprachige Schriftsteller wie Heinrich Mann (1871-1950), Heinrich Böll (1917-1985) – und Erich Maria Remarque (1898-1970).

Zehn Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte Remarque seinen Roman «Im Westen nichts Neues» über die Gräuel des Stellungskriegs geschrieben. Der Antikriegsroman handelt vom tragischen Schicksal eines jungen deutschen Soldaten an der Westfront und war gleich nach seinem Erscheinen ein sensationeller Erfolg. Noch im Jahr seiner Veröffentlichung wurde er in 26 Sprachen – darunter auch Russisch – übersetzt.

Die RBC besass ein Exemplar der «einzigen autorisierten und vollständigen russischen Ausgabe» von 1928, wie sich der Titelseite entnehmen lässt. Das Buch war nicht etwa in Moskau oder Leningrad erschienen, sondern in Berlin. Hier hatte sich während der Weimarer Republik eine aktive Szene russischsprachiger Verlage gebildet.

«Na zapadnom fronte bez peremen» von Erich Maria Remarque, Berlin 1928; Signatur RBC 4038. (Bild: ZB Zürich)

Aleksandra Kollontajs «Freie Liebe»

In den Beständen der RBC sind männliche Schriftsteller in der Überzahl. Allerdings finden sich auch weibliche Autorinnen, die progressive Anschauungen vertraten und unangepasste Leben führten. Dazu gehörten die Dichterinnen Anna Achmatova (1889-1966) und Zinaida Gippius (1869-1945) oder die Schriftstellerinnen Elsa Triolet (1896-1970) und Aleksandra Kollontaj (1872-1952).

Kollontaj gehörte zu den Vordenkerinnen weiblicher Gleichberechtigung in der frühen Sowjetunion. 1898 studierte sie an der Universität Zürich, später lebte sie im Exil in Deutschland, Frankreich und Skandinavien. Unter Lenin und später auch Stalin machte sie politische Karriere; als erste Volkskommissarin, wie die Ministerinnen in der Sowjetunion hiessen, setzte sich Kollontaj für die Lockerung des Eherechts, den Mutterschutz, die Kinderbetreuung und legale Schwangerschaftsabbrüche ein.

Während ihrer späteren Tätigkeit als weltweit erste Diplomatin veröffentlichte sie Erzählungen, die sich mit ihrer Vorstellung einer freien Liebe zwischen Mann und Frau beschäftigen. Dazu gehörte auch der 1923 erstmals erschienene Band «Liebe der Arbeitsbienen», der 1925 als «Wege der Liebe» ins Deutsche übersetzt wurde.

Eine Erzählung aus dem Band erschien 1925 in Riga unter dem Titel «Freie Liebe». Ein Exemplar gelangte in den frühen 1930er-Jahren in die RBC und wurde bis in die späten 1960er-Jahre regelmässig ausgeliehen.

«Svobodnaja ljubovʹ (ljubovʹ pčel trudovych)» von Aleksandra Kollontaj, Riga 1925; <br>Signatur RBC 2261. (Bild: ZB Zürich)

Die Leihvermerke auf dem Vorsatzpapier bezeugen, dass der Band von Kollontaj über Jahrzehnte regelmässig ausgeliehen wurde. <br>(Bild: ZB Zürich)

Vladimir Nabokovs «Mašenʹka»

Besonderer Beliebtheit erfreuten sich in der RBC die Werke der Autorinnen und Autoren, welche Russland und das zerfallende Zarenreich nach der Oktoberrevolution verlassen hatten und nun im Exil schrieben. Dazu gehörten Michail Osorgin (1878-1942) und Ivan Bunin (1870-1953), die nach Frankreich emigriert waren. Neben Paris wurde Berlin ein wichtiges Zentrum für die Exil-Russen. Hier liess sich auch die Familie von Vladimir Nabokov (1899-1977) nach der Flucht aus Sowjetrussland nieder.

Unter dem Pseudonym Vladimir Sirin veröffentlichte Nabokov hier seinen ersten Roman «Mašenʹka». Er spielt im Berlin der frühen 1920er-Jahre und beschreibt das Leben des russischen Emigranten Lev Ganin, der sich voller Sehnsucht an eine verlorene Liebe und die zurückgelassene Heimat erinnert. Der Roman erschien erstmals 1926 in dem von russischen Emigrantinnen und Emigranten gegründeten Verlag Slovo (Das Wort) in Berlin.

Das Exemplar aus der RBC – eine Erstauflage – befindet sich bereits seit 1927 in den Beständen und gehört damit zu den ersten zeitgenössischen Werken der Exilliteratur, die der Verein anschaffte.

«Mašenʹka» von Vladimir Nabokov, Berlin 1926; Signatur RBC 3256. (Bild: ZB Zürich)

Boris Pasternaks «Doktor Živago»

Die Leserinnen und Leser der RBC konnten auch Literatur aus der Sowjetunion beziehen, darunter Beispiele des Sozialistischen Realismus. Prototypisch für den staatlich verordneten Stil steht der Roman «Wie der Stahl gehärtet wurde» (1932) von Nikolaj Ostrovskij (1904-1936), der gleich in drei Ausgaben in der RBC vorlag.

Stärker vertreten waren aber diejenigen sowjetischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die trotz drohender Repressalien in offener oder verdeckter Opposition zum Staat standen. Dazu gehörten der aus Kyjiw stammende Michail Bulgakov (1891-1940) und Andrej Platonov (1899-1951), deren Romane zu ihren Lebzeiten nicht in der Sowjetunion erscheinen durften. Auch der Jahrhundertroman «Doktor Živago», für den Boris Pasternak (1890-1960) 1958 den Literaturnobelpreis erhielt, erschien zuerst nicht in der Sowjetunion. Der Roman erzählt die wechselvolle Liebesgeschichte von Lara Antipova und dem dichtenden Arzt Juri Živago vor dem Hintergrund der historischen Umbrüche im Russland des 20. Jahrhunderts.

Eine Abschrift des Manuskripts, das Pasternak 1955 fertiggestellt hatte, konnte er in den Westen schmuggeln. In italienischer Übersetzung erschien «Doktor Živago» erstmals im November 1957 bei Giangiacomo Feltrinelli Editore in Mailand; schon bald folgte eine Ausgabe im Russischen Original. In der RBC befindet sich eine solche frühe Russische Ausgabe von Feltrinelli aus den späten 1950er-Jahren.

«Doktor Živago» von Boris Pasternak, Mailand, um 1957; Signatur RBC 3598. (Bild: ZB Zürich)

Taras Ševčenkos «Kobzarʹ»

Die RBC war eine Bibliothek für russischsprachige Literatur. Das bedeutete aber nicht, dass alle Autorinnen und Autoren, die auf Russisch schrieben, auch ethnische Russen waren. Es finden sich darüber hinaus russischsprachige Werke von Schriftstellerinnen und Schriftstellern anderer slavischer Nationen und sogar einige wenige Bücher in anderen slavischen Sprachen, wie dem Ukrainischen.

Ein Beispiel dafür sind die Werke des bedeutendsten ukrainischen Dichters des 19. Jahrhunderts, Taras Ševčenko (1814-1861). Er wurde als Leibeigener im Gouvernement Kyjiw, das damals zum Russischen Kaiserreich gehörte, geboren. Erst nach dem Freikauf durch wohlhabende Gönner konnte Ševčenko ein Studium an der Akademie der Künste in St. Petersburg beginnen, widmete sich jedoch zunehmend dem Schreiben. Sein erster Gedichtband, «Kobzarʹ», erschien 1840 und löste grosse Resonanz aus. Er gilt als Meilenstein der ukrainischen Literatur.

In der RBC befinden sich mehrere Ausgaben von «Kobzarʹ» sowie weitere seiner Gedichtbände, die in Moskau, aber auch in Kyjiw erschienen. Sogar ein Exemplar aus einer ukrainischen Druckerei in Genf von 1890 findet sich darunter. Im Vorwort erklärt der unbekannte Verfasser, dass diese Ausgabe Gedichte aus dem «Kobzarʹ» enthalte, die in Russland von der Zensur verboten seien. Ein Stempel auf der Titelseite verweist darauf, dass der Band früher der Gruppe ukrainischer anarchistischer Kommunisten gehörte.

«Poeziji» von Taras Ševčenko, Genf 1890; <br>Signatur RBC 4439. (Bild: ZB Zürich)

Die erste und einzige russische Bibliothek?

Der Name der Russischen Bibliothek Zürich ist sinnfällig, beschreibt er doch den einzigen erklärten Vereinszweck. Unklar ist, ob den Gründerinnen und Gründern bewusst war, dass ihr Verein in der Tradition einer früheren, ersten Russischen Bibliothek in Zürich stand.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war die Schweiz für zahlreiche politische Oppositionelle aus dem Zarenreich ein wichtiger Zufluchtsort. Andere kamen, um hier zu studieren oder sich in den Sanatorien zu kurieren. Der vielstimmige Kreis slavischer Exilantinnen und Exilanten entfaltete eine grosse publizistische Tätigkeit; es wurden eigene Druckereien, Lesevereine und Bibliotheken gegründet. In Davos etwa war seit 1899 eine Bibliothek für die russischen Kurgäste aufgebaut worden. Und in Lausanne hatte seit 1907 der russische Pädagoge und Anhänger der Partei der Sozialrevolutionäre Nikolaj Rubakin (1862–1946) eine Bibliothek von sage und schreibe rund 75‘000 Titeln aufgebaut.

Auch in der russischen Kolonie in Zürich gab es – wenn auch nur kurz – bereits im 19. Jahrhundert eine Bibliothek mit russischsprachigen Werken. 1870 wurde die erste Russkaja Biblioteka v Cjuriche gegründet. Sie fokussierte sich auf Publikationen zu den nationalen Arbeiter-, Befreiungs- und Revolutionsbewegungen. 1873 führte eine Erklärung des Zaren, mit der die Möglichkeiten für russische Studentinnen in Zürich stark eingeschränkt wurden, zum Niedergang der russischen Kolonie der Stadt. Auch die Bibliothek löste sich auf: Die Bestände wurden zerstreut; der Verbleib der Bücher ist nur im Einzelfall nachweisbar.

Ein Titel dieser ersten Russischen Bibliothek Zürich gelangte als Schenkung an die Zentralbibliothek und befindet sich heute in der Sammlung Alte Drucke und Rara.

«Galerie Historique de la Révolution Française 1789-1793», Paris, wohl 1869, mit dem Stempel der ersten Russischen Bibliothek in Zürich. (Bild: ZB Zürich)

Das Schicksal der RBC – vom Slavischen Seminar der UZH zur Zentralbibliothek

In den letzten Jahren ihres Bestehens äusserten sich die ehrenamtlichen Bibliothekarinnen besorgt über das Schicksal der RBC, denn der Leserkreis sei nur mehr klein und darunter befänden sich wenig junge Leute. Zwar kamen seit der Gründung des Slavischen Seminars an der Universität Zürich 1961 vermehrt auch Studierende der Slavistik, allerdings konnten auch diese den Mangel an aktiven jungen Mitgliedern nicht aufwiegen.

Ab 1980 wurde die Frage nach dem Schicksal der Bibliothek immer dringlicher. Der Vorstand erwog unterschiedliche Optionen, wie den Verkauf der Bestände an Privatpersonen oder die Übergabe an die Zentralbibliothek. 1983 schenkte der Verein Russische Bibliothek Zürich den Bestand von rund 6000 Bänden, dem ein Wert von 45’000 Franken zugesprochen wurde, schliesslich dem Slavischen Seminar der Universität Zürich.

Transport der Bestände der RBC zum Slavischen Seminar, 1983. <br>(Bild: anonym / aus: Peter Brang u.a. (Hrsg.): «Den Blick nach Osten weiten. <br>Fünfzig Jahre Slavisches Seminar der Universität Zürich (1961-2011)», Zürich 2011)

In den frühen 2000er-Jahren, als die Seminarbibliothek immer weiter gewachsen war, stellte sich erneut die Frage nach dem Verbleib der RBC. Ende 2002 wurde entschieden, sie an die Zentralbibliothek zu geben; schon am 11. Januar 2003 erfolgte der erste von rund sieben Transporten vom Slavischen Seminar an der Plattenstrasse zum Zähringerplatz. Endlich hatten die RBC und das Archiv des Vereins ihre finale Destination erreicht.

Die RBC in der ZB Zürich – Recherchehinweise

Zettelkatalog der RBC im Freihandmagazin der ZB Zürich. (Bild: Miriam Leimer)

  • Der Bücherbestand mit der Signatur RBC ist über Swisscovery online recherchier- und bestellbar. Vor weniger als 100 Jahren erschienene Bände lassen sich in der Regel ausleihen; früher veröffentlichte sind im Lesesaal konsultierbar. Bitte beachten Sie bei der Suche nach einzelnen Titeln oder Autorinnen und Autoren die Schreibweise: Die Umschrift des russisch-kyrillischen Alphabets erfolgt gemäss DIN 1460-1.
    Fragen zum Buchbestand beantwortet gern Marija Simasek, Liaison Librarian Slavische Philologie.
  • Das Archiv des Vereins ist im Archivportal zbcollections.ch verzeichnet und im Lesesaal der Handschriftenabteilung der ZB Zürich einsehbar. Für die Nutzung kontaktieren Sie bitte vorab per E-Mail die Handschriftenabteilung.
  • Auch eine Sammlung von 263 historischen Ansichts- und Postkarten gehört zu den Beständen der RBC. Sie ist im Lesesaal der Graphischen Sammlung der ZB einsehbar. Für die Nutzung kontaktieren Sie bitte vorab per E-Mail die Graphische Sammlung.


Miriam Leimer, Kunsthistorikerin, Willy-Bretscher-Fellow 2022/23
Februar 2023


Header-Bild: RBC-Bücher in der ZB Zürich (Stefanie Ehrler)

Dank

Die Verfasserin ist Stefanie Ehrler, Abteilung Turicensia an der ZB; Marija Simasek, Liaison Librarian Slavische Philologie an der ZB; Anita Michalak, Bibliothekarin des Slavischen Seminars der UZH; Dr. Eva Maurer, Leitung Schweizerische Osteuropabibliothek (SOB) Bern und vor allem Monika Bankowski, bis 2011 Fachreferentin Slavische Philologie an der ZB, zu grossem Dank verpflichtet.

Die Recherchen wurden ermöglicht durch das Willy-Bretscher-Fellowship 2022/23.