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Dank Spuren am Objekt zu einer Einbandrekonstruktion in der Restaurierung
19. Oktober 2023
Gemäss dem digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DEDS.de) ist eine »Spur» eine Reihe von Anzeichen, Merkmalen, die zum Aufenthaltsort einer gesuchten Person oder Sache, zur Aufklärung eines Verbrechens, zur Entdeckung von etwas Verborgenem führt.
Nicht zur Aufklärung eines Verbrechens führten gefundene Spuren wie Aussparungen im Holz und im Pergament, Reste von Pergamentriemchen oder Holzpflöcke (gekennzeichnet mit roten Pfeilen), sondern zur Vorgehensweise in der Restaurierung des Objektes Ms C 147 «Theorica planetarum».
Spuren… sind zuerst frisch und deutlich zu erkennen, aber mit der Zeit werden sie unscharf und sind immer schwieriger zu deuten…
Was sagen diese Spuren? Was tun? Der folgende Text demonstriert, wie die Interpretation von Spuren am Objekt eine Einbandrekonstruktion ermöglicht hat.
Das Objekt
Ms C 147 besteht aus fünf Holzplatten, 16,5 cm x 16,0 cm gross, mit aufgeklebten Pergamenttafeln, bei welchen einzelne Elemente drehbar sind (Fotos 1 bis 3).
Der Katalog der Zentralbibliothek enthält folgende inhaltliche Angaben: «Sieben Instrumente mit Drehscheiben aus Pergament, montiert auf fünf buchartig zusammengefügten Holztafeln […] Es handelt sich um Instrumente zur Feststellung der aktuellen Stände von Sonne, Mond und Planeten, ein so genanntes 'Aequatorium planetarum'. Das Aequatorium ist hergestellt nach den Vorgaben in Campanos da Novara Traktat ‘Theorica planetarum’.»
Bei den Pergamentstücken handelt es sich zum Teil um wiederverwendete Blätter, auf deren Rückseiten ein unbekannter Text steht, wohl eine grammatikalische Abhandlung aus dem 13. Jahrhundert.
Fragen
Birgt der Inhalt noch heute Rätsel, so tat es zu Beginn auch die Konstruktion des Einbandes. Die Holzplatten waren durch geklebte Leinenfälze (Foto 4) miteinander verbunden und mit einem Pergamentrücken bezogen. Der Rücken sowie die Fälze lösten sich, da kein Platz im Falz zum Blättern bestand (Foto 3).
Was tun?
Auf den ersten Blick erschloss sich schon, dass dies nicht der Originaleinband sein konnte. Dafür waren die Gewebefälze viel zu modern und die Mechanik nicht funktionell. Würde man den Einband in dieser Form restaurieren, bestünde die Gefahr,
dass die Bindung wieder schnell Schaden nehmen würde.
Es stellte sich die Frage, wie der Originaleinband aussah.
Wie in der Restaurierung üblich, wurde mit der Dokumentation begonnen und der Ist-Zustand fotografisch festgehalten. Nach der Trockenreinigung wurden die Leinenfälze entfernt und die stark mit Klebstoff verklebten hinteren Kanten der Holzplatten gereinigt.
Dabei traten Spuren einer älteren Einbandkonstruktion ans Licht (Foto 5 und 7): kleine Vertiefungen, je zwei an der Vorder- und an der Rückseite der hinteren Kante, versetzt um 6 mm und Reste von Holzpflöckchen.
Um die Rückseiten der schon teilweise angelösten Pergamenttafeln (Foto 6) für die Forschung digitalisieren zu können, wurden sie komplett gelöst.
Dabei wurden weitere Spuren wie Pflöckchen, Vertiefungen, Aussparungen (Foto 7) wie die einer älteren Einbandkonstruktion sichtbar: Reste von Pergamentriemchen an Holzpflöckchen (Foto 8 und Foto 9).
Wie in der Restaurierung weiter vorgehen? Wie können diese gefundenen Spuren dabei helfen, das weitere Vorgehen zu bestimmen? Wie können sie interpretiert werden?
Recherche
Es folgte eine Recherche in Fachbüchern, im Internet und im Austausch mit FachkollegInnen nach historischen Verbindungstechniken von Holztafeln, wie beispielsweise der Bindung eines Wachstafelbuchs (Foto 10). Sie führte aber leider zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis, da sie nicht zu den vorgefundenen Spuren passten.
Bei einer französischen Archivbindungstechnik (Mustereinband, hergestellt in einem Praktikum in einer Restaurierungswerkstatt in Frankreich, sogenannte Reliure de Milan, Fotos 11 und 12) existiert eine Verschlusstechnik mit versetzten Pergament- bzw. Lederriemen und einem durchgeführten Holzstab. Wenn auch ungewöhnlich, könnte das eine Möglichkeit sein?
Würde die Konstruktion funktionieren, böte sie die Gelegenheit, die Tafeln separat zu nutzen und sie zu «blättern». Die Pergamentriemen waren wahrscheinlich der Schwachpunkt der Verbindung. Sind deswegen die Holzpflöckchen da? Sind sie ein Hinweis auf eine nachträgliche Reparatur, um den Riemen mehr Halt zu geben?
Muster
Um die Vermutung zu verifizieren, wurde ein Muster angefertigt.
In den Fotos 13 und 14 kann man die Parallelen zwischen den Originalspuren und dem Verschlussmuster erkennen.
Die Konstruktion funktionierte. Bei der Manipulation des Musters lösten sich die Pergamentriemchen unter Belastung zum Teil wieder, was tatsächlich die Pflöckchen im Original erklären könnte.
Aufgrund der hohen Übereinstimmung der Spuren und der funktionierenden Einbandtechnik wurde entschieden, den Einband in dieser Form zu rekonstruieren.
Rekonstruktion
Da keine hundertprozentige Sicherheit besteht, ob die Rekonstruktion wirklich dem Originaleinband entspricht, bestand der Anspruch, dass die Originalspuren intakt bleiben. Somit wurden
nach der Digitalisierung der Rückseiten die Pergamentriemchen auf die Holztafeln geklebt, aber nicht mehr in die Vertiefung eingearbeitet. Die Originalspuren wie Schlitze im Pergament oder die Holzpflöckchenreste blieben unangetastet.
Die Tafeln wurden mit Japanpapierfälzchen an den Holzplatten befestigt. Die reversible Befestigungstechnik ermöglicht zudem auf Luftfeuchtigkeitsschwankungen zu reagieren, ohne Spannungen zu verursachen.
Die Pergamente auf den beiden äusseren Holztafeln (Vorder- und Hinterdeckel) wurden niedergeklebt und mit Japanpapier ergänzt. Darauf folgten Retusche-Arbeiten und das Einführen der Holzstäbe.
Das Ergebnis einer Spurensuche!
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Bestandserhaltung |
Die Zentralbibliothek Zürich scannt mit Google Books
17. August 2023
Steht der Untergang des Abendlandes nun bevor? (Wahrscheinlich nicht.) Schaffen Bibliotheken sich nun endgültig ab? (Mitnichten!) Nichtsdestotrotz löst die Kooperation zwischen einem der grössten Tech-Unternehmen der Welt und einer Bibliothek wenn nicht Befremden, so doch eine gewisse Skepsis aus. Doch worin besteht diese Kooperation überhaupt?
Die seit 2010 laufende schweizerische Kooperationsplattform e-rara für digitalisierte Alte Drucke, Musikalien, Graphiken und Karten hat im April 2023 die Marke von 100'000 digitalisierten Objekten geknackt! Das ist super! In Zeiten softwareunterstützter Massendigitalisierung von Büchern fällt die Zahl jedoch – gemessen an den verfügbaren Beständen – gering aus, handelt es sich bei der Retrodigitalisierung doch um ein ressourcenintensives Unterfangen, das kostspielige Hardware, technische Infrastruktur, massive Datenverarbeitungs- und Speicherkapazitäten sowie personelle Ressourcen voraussetzt. Die ZB Zürich ist daher 2019 zusammen mit drei weiteren Schweizer Bibliotheken (UB Bern, ZHB Luzern, UB Basel) eine Public Private Partnership mit Google zur Digitalisierung ausgewählter Bestände eingegangen. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit sollen über 300'000 Bücher innert kurzer Zeit digitalisiert und der Allgemeinheit und Forschung zur Verfügung gestellt werden.
Das Projekt Google Books
Im Jahr 2005 als «Google Books Search»-Projekt gestartet, umfasst die Plattform «Google Books» heute über 40 Millionen Bücher in digitalisierter Form (Stand 2019), auf die kostenfrei und von überall zugegriffen werden kann. Während in den USA anfangs shelf-cleaning-scanning betrieben wurde, d.h. ganze Magazine von A-Z durchgescannt wurden, ohne Rücksicht auf Urheberrechte oder Kollektionszugehörigkeit, werden heutzutage – nach einer Reihe juristischer Auseinandersetzungen – vor allem Inhalte von Verlagspartnern und konfliktarme Bestände von Partnerbibliotheken gescannt. Anders verhält es sich in Rahmen der Public Private Partnerships mit den europäischen Bibliotheken: diese lassen ausschliesslich ihre urheberrechtsfreien Bestände von Google digitalisieren. Während Google somit permanent mit Büchern durch die Bibliotheken versorgt wird, profitieren die Bibliotheken ebenfalls in mehrfacher Hinsicht: ein (Teil-)Bestand ist digital verfügbar, der Link zu Google Books kann im Katalog implementiert werden, die Scans werden mit OCR erschlossen und die finanziellen Aufwendungen halten sich im Rahmen, da Google für den Transport, die Versicherung und die Digitalisierung der Bücher und die Prozessierung der dabei entstandenen Daten (Bildbearbeitung, OCR, Metadaten) aufkommt.
Projektkooperation Google Books mit Schweizer Bibliotheken
Als vergleichsweise «späte» Partner des Google Books Projekts, operieren die Schweizer Bibliotheken mit sogenannten «Candidate Lists», die diejenigen von Google vorselektierten Bestände einer Bibliothek umfassen, welche noch nicht auf Google Books verfügbar sind. Im Fall der ZB Zürich enthält diese Liste ca. 160'000 Titel, von denen – vorbehaltlich der konservatorischen Vorkontrolle – ein Grossteil in den nächsten etwa zwei Jahren digitalisiert wird. Um bei diesen Mengen einen Überblick zu behalten, nutzen wir die Workflowsoftware der Firma ImageWare. Diese bildet den Prozess vom Ausheben der Bücher im Magazin mit Laufzetteln, über die Abwicklung der benötigten Dokumente für den Zoll, sowie Reports (Metadaten, Bücherlisten) für Google, bis zur Einspielung der Links zu den fertig digitalisierten Büchern auf Google Books ab.
Vorgang ZB Zürich
Unser tatkräftiges Magazinerteam hebt die Bücher anhand der Liste aus und kontrolliert die formalen Bedingungen (Grösse, Breite, grober Zustand des Buches, Kurz-Metadaten). Bei der konservatorischen Vorkontrolle durch unsere Restauratorinnen werden die Bücher auf ihren Zustand (Schäden, Öffnungswinkel) überprüft und entweder geflickt oder aus dem Workflow genommen. Anschliessend werden die für den Versand vorgesehenen Bücher in der Workflowsoftware in einer Charge verbucht, verpackt und beschriftet. 20 Chargen à ca. 250 Bücher ergeben jeweils eine Lieferung von etwa 5000 Büchern, die monatlich nach München ins Scanzentrum von Google transportiert, gescannt und wieder zurückgeliefert wird. Da die Bücher dabei die Grenze von einem nicht-EU-Land und der EU passieren, muss für jede Lieferung ein Zolldokument (Carnet ATA) von der Handelskammer Zürich ausgestellt werden, um die Zollrichtlinien zu erfüllen.
Scanning und Image Processing
In München werden die Bücher an von Google selbst entwickelten Scanstationen digitalisiert und die Bilder maschinell weiterverarbeitet. Zum Anfertigen der Scans wird jede Doppelseite (je die rechte und linke Seite) von zwei hochauflösenden Kameras fotografiert sowie von oben mit einer Infrarotkamera erfasst. Ein spezieller Algorithmus fügt die fotografierten Bilder zu einem dreidimensionalen Bild zusammen, welches anschliessend «flach» gerechnet wird, wobei der Eindruck einer planen Seite entsteht. Weitere Prozessschritte umfassen die Beschneidung der Ränder (Cropping), die Anpassung der Kontraste, die Retuschierung der Finger, die Konvertierung der Farben in Graustufen. In einem weiteren Prozess werden die Metadaten aufbereitet: zusammengehörige Bände werden einer Reihe/Ausgabe zugewiesen (Clustering).
OCR
Den für die Suche fundamentalsten Schritt trägt die Texterkennung bei. Bei der Durchführung der «Optical Character Recognition» (OCR) hat Google zuletzt wesentliche Fortschritte erzielt, so dass heutzutage etwa 60 Sprachen vollständig und knapp 40 teilweise unterstützt, ausserdem diverse Alphabete (arabisch, griechisch, thai, japanisch, lateinisch, und diverse weitere) und teils handschriftliche Systeme erkannt werden. Um Text aus Bildern identifizieren zu können, wird zunächst das Layout einer Seite und die Schriftrichtung analysiert. Die separierten Zeilen, Spalten und Wörter werden auf Schrift(en) und Stil(e) untersucht. Verschiedene Datenmodelle (Multi-Script Recognizer, n-Gram Language Model, Graph Convolutional Networks, Layout Postprocessing) berechnen sodann unter Einbeziehung diverser Parameter die wahrscheinlichsten «Übersetzungen» eines Scans, indem Satzanfang- und Ende, Sprache(n), Schrift, Zeilenlänge, Absatz- oder Spaltenanfang sowie -Ende, Leseweg und Füllmaterial (Bilder, Verschmutzungen, Nicht-Text) erkannt und mit den Datenmodellen abgeglichen werden. Daraus entsteht im Optimalfall ein beinahe fehlerfreier, maschinenlesbarer Text, der Suche und Text Mining begünstigt.
Nutzerstatistik und Beispiele aus unserem Bestand
Beim ersten aus unserem Bestand auf Google Books aufgeschaltete Buch handelt es sich um die 1895-er Ausgabe der Zeitschrift «Puck». Inzwischen sind tausende weitere Bücher aufgeschaltet worden. Die beiden aus unserem Bestand bisher beliebtesten Buch sind Rime sowie Tercüme-i Sihah il-Cevheri, wie uns ein Blick auf unsere interne Nutzerstatistik verrät.
Qualität
Gemessen an den Qualitätsstandards, an welchen e-rara sich orientiert, schneiden die Google-Digitalisate im Gesamtpaket grösstenteils schlechter ab (Qualität der Scans und der Vorschau, Metadaten), die technischen Innovationen und sukzessive Re-Prozessierung der Daten schliessen die Lücke allerdings merklich.
Ausblick
Neben der verbesserungswürdigen Qualität der Metadaten und Scans, besteht ein noch grosses Potenzial in Bezug auf die freie Zugänglichkeit der Bilder und Daten für die Forschung. Das Google n-gram-Tool zeigt, welche Spielereien mit grossen Datenmengen möglich sind. Trotzdem wird der Zugang zu den Daten restriktiv behandelt, selbst wenn es sich – wie im Fall der europäischen (und einiger US-Partner) – um Public-Domain-Daten handelt. So sind Massendownloads von Datensets direkt von Google Books bisher nicht erlaubt bzw. erfordern bei grösseren Sets ein separates Agreement der betreffenden Institution mit Google. Die Implementierung innovativer Schnittstellen wie die IIIF-API sind ein weiteres Desiderat, ebenso wie die Möglichkeit, Kollektionen & Datensets in Google aufzubauen, zu pflegen und diese Daten zu nutzen oder nutzen zu lassen. Insbesondere Bibliotheken und andere kulturelle Institutionen könnten so einen noch grösseren Beitrag leisten, in den Digital Humanities neue Wege und Herangehensweisen an digitale Materialien zu eröffnen oder zu etablieren, sei es durch die Bereitstellung von Datensets für Hackathons, sei es durch eigene Entwicklungen in Labs und in Zusammenarbeit mit Forschenden.
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Mitarbeiterin Abteilung Alte Drucke und Rara |
Familienarchiv Hirzel wird restauriert
15. Mai 2023
Mit Unterstützung der Familienstiftung Hirzel sichert die ZB das Archiv eines der bedeutendsten Zürcher Bürgergeschlechter für künftige Generationen.
Mitglieder der Familie Hirzel prägten die Geschichte Zürichs vom 16. bis 19. Jahrhundert als Bürgermeister, Räte und Landvögte. Sie waren Offiziere, Pfarrer und Gelehrte. Das Archiv dieser einflussreichen Familie kam 1900 in die damalige Stadtbibliothek. Heute ist es in der Handschriftenabteilung der ZB zugänglich und wird von Forschenden rege genutzt.
Briefe der Aufklärung
Besonders nachgefragt sind die über 2’300 Briefe samt Beilagen aus dem Nachlass des Stadtarztes Hans Caspar Hirzel (1725-1803). Kein Wunder: Jean-Jacques Rousseau, Jakob Gujer genannt Kleinjogg, der Brugger Arzt und Lavater-Freund Johann Georg Zimmermann, der Philosoph Johann Georg Sulzer, der Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock oder die Salonnière Sophie von La Roche sind nur einige der bekannten Namen, die darin auftauchen.
Eine diplomatische Mission im Tagebuch
Ein anderes Highlight ist das Pariser Tagebuch von Salomon Hirzel (1580-1652). Darin notierte er 1634-1635 seine Eindrücke als Teilnehmer an der Mission der Eidgenossenschaft betreffend die Handelsprivilegien. Neben Briefen und Tagebüchern umfasst das Familienarchiv Hirzel zahlreiche andere interessante Materialien, etwa Akten zum Stipendienfonds, den Salomon Hirzel stiftete, Chroniken und Stammtafeln, Militaria und Schriftstellerisches, aber auch Objekte wie Kupferplatten für Porträtstiche und eine Siegelsammlung.
Restaurierungs- …
Das Familienarchiv Hirzel in der ZB ist grundsätzlich in gutem Zustand. Gleichwohl sind im Laufe der Jahrhunderte Schäden entstanden, die nun restauratorische Massnahmen notwendig machen. Ein typisches Schadensbild ist der so genannte Tintenfrass – ein chemischer Abbauprozess historischer Tinten, der zur Zerstörung des beschriebenen Papiers und damit der Dokumente führen kann. Häufig sind auch über die Jahrhunderte brüchig gewordene Faltstellen und Blattränder, bestossene Ecken von Bucheinbänden und beschädigte Siegel.
… und Konservierungsbedarf
In vielen Fällen können präventive und konservatorische Massnahmen verhindern, dass in Zukunft Schäden entstehen. Dazu gehört etwa die Reinigung der Objekte oder die Umverpackung in alterungsbeständige massgefertigte Archivschachteln. Dank der grosszügigen Unterstützung der Familienstiftung Hirzel arbeitet die ZB das Familienarchiv Hirzel seit Ende 2020 restauratorisch und konservatorisch systematisch auf. Zudem wird eine Auswahl der restaurierten Dokumente auf der Plattform e-manuscripta digital zur Verfügung gestellt.
Blick über die Schulter
In den nächsten Monaten werden wir Ihnen einen Blick über die Schultern des Restaurierungsteams erlauben, ausgewählte Objekte vorstellen und verschiedene Projektbeteiligte zu Wort kommen lassen. Interessiert? Dann folgen Sie dem Hashtag #RestaurierungHirzel.
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Chefbibliothekar Spezialsammlungen |
Eine Dekade e-manuscripta.ch. Jubiläumsanlass und Visual Library-Anwendertreffen in der ZB
20. April 2023
Am 13. März 2023 jährte sich die Aufschaltung von e-manuscripta.ch, der Plattform für digitalisierte handschriftliche Quellen aus Schweizer Bibliotheken und Archiven, zum zehnten Mal. Das sollte gebührend gefeiert werden.
Der Anlass bot eine gute Gelegenheit, als Gastgeberin für das seit mehreren Jahren regelmässig stattfindende Anwendertreffen von Visual Library (VL), der Software, auf der Plattformen wie e-manuscripta.ch oder auch e-rara.ch basieren, aufzutreten. So lud die ZB als eine der vier Partnerinstitutionen der Plattform und gleichzeitig Sitz der Geschäftsstelle auf den 13. und 14. März in ihre Räume ein.
70 Teilnehmende aus dem D-A-CH-Raum
An diesen Anwendertreffen kommen jeweils Vertretungen aus Institutionen und Organisationen zusammen, die mit der Software Visual Library von Semantics/Walter Nagel arbeiten, um sich über die aktuellen Projekte und Weiterentwicklungen auszutauschen.
Nach dreijährigem pandemiebedingtem Unterbruch war die Motivation besonders gross, endlich wieder in direkten Begegnungen den Austausch zu pflegen. Da nahmen um die 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Deutschland und Österreich gerne die Anfahrt nach Zürich in Angriff. Auch aus den verschiedenen inländischen Partnerinstitutionen nahmen zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter die Gelegenheit für eine Teilnahme in näherer Umgebung wahr, während die Schweizer Delegation in anderen Jahren normalerweise aus der Leiterin der Geschäftsstelle von e-manuscripta.ch und dem Verantwortlichen für die technische Infrastruktur an der ETH-Bibliothek besteht.
VL als Repositoriumslösung und im Einsatz für Retrodigitalisierungsprojekte
Die vorgestellten Projekte (das genaue Programm findet sich hier) umfassten eine grosse thematische Bandbreite und zeigten verschiedene mögliche Einsatzbereiche oder zusätzliche Funktionen der VL auf, welche vielleicht auch bei den Schweizer Plattformen gelegentlich zur Verwendung kommen könnten. Bei zwei Präsentationen ging es um Repositorien, wobei es sich einerseits um eines für elektronische Pflichtexemplare und beim andern um eine Ablage von Open Access-Veröffentlichungen handelt. Ziel ist jeweils ein hoher Automatisierungsgrad der Abläufe aber auch die Vereinheitlichung der Datenformate.
Im nächsten Themenblock kriegten wir einen Einblick in ein Crowdsourcing-Projekt, bei welchem es um die Erschliessung von Theaterzetteln ging, die Details zu einzelnen Aufführungen enthielten wie etwa dem Stücktitel und den beteiligten Personen. Wie sich die Volltexte von Zeitungen weiterbearbeiten und anreichern lassen durch Lokalisierung von Personen und Orten sowie Verknüpfung mit deren Einträgen in der Normdatei mittels Named Entity Recognition, wurde uns in der zweiten Präsentation vorgeführt.
VL als Tool für Sammlungspräsentation
Aus dem Museumsbereich wurde ein Projekt des Wiener Museums für Moderne Kunst präsentiert, das noch ganz am Anfang steht. Es ist vorgesehen, dass mit Hilfe eines Crowdsourcing-Tools während museumspädagogischen Veranstaltungen die Kinder und Jugendlichen beschreiben, was sie auf den gezeigten Bildern sehen. Ziel ist, möglichst unvoreingenommene Beobachtungen mit allgemein verständlichen Begriffen zu erhalten.
In einem besonders gross angelegten Frankfurter Projekt wird eine dezentral aufbewahrte Sammlung auf einer gemeinsamen Präsentationsoberfläche zusammengefügt. Darunter sind mehrere Nachlässe, die in separaten Datenbanken mit ganz unterschiedlichen Metadatenformaten erschlossen worden sind. Auch Editionen von Tagebüchern im TEI-Format sind anzutreffen, die nun für eine Präsentation neben der jeweiligen Abbildung aufzubereiten sind.
IIIF in e-manuscripta.ch
Die Präsentationen vom Dienstag drehten sich um grosse Verbundsysteme in Österreich und der Schweiz, bei welchen eine zentrale Infrastruktur erarbeitet worden ist und auch persistente Identifier sowie die Langzeitarchivierung einen Teil des Angebots ausmachen.
Der Reigen der Vorträge nahm ihren Abschluss mit einem Abstecher in die Welt des International Image Interoperability Frameworks IIIF und der Präsentation der bei e-manuscripta.ch integrierten Möglichkeit, den ausgewählten Titel mit einem einzigen Mausklick in den ZB-Viewer zu laden, wobei alle weiteren Titel ebenfalls im gleichen Tab gesammelt werden können.
Kontinuierlicher Projektaustausch erwünscht
Zum Abschluss der Tagung wurde in einer Diskussion über weitere Austauschmöglichkeiten ganz deutlich, wie gross das Interesse ist, zu den vorgestellten und auch zukünftig anstehenden Projekten regelmässig auf dem Laufenden zu bleiben. Da wird es vom Austausch von Mailadressen über Projektlisten bis hin zu regelmässigen Videokonferenzen verschiedene Initiativen geben, die es ermöglichen sollen, möglichst frühzeitig von ähnlichen Vorhaben Kenntnis zu erhalten und auch gemeinsam nach optimalen Lösungen bei auftauchenden Schwierigkeiten zu suchen.
Festvortrag zu K.I. in der Handschriftenerschliessung
Der Montagabend stand ganz im Zeichen des 10-jährigen Jubiläums. Der Festvortrag fand in einem grösseren Hörsaal der Universität Zürich statt und wurde gehalten von Prof. Dr. Malte Rehbein von der Universität Passau. Unter dem Titel «Auf dem Weg zu Big Data? Handschriftenerschliessung zwischen Fachwissen, Citizen Science und K.I.» spannte er den Bogen von der Steuerung der Wahrnehmung von Quellenmaterial mittels besserer Erschliessungstiefe bis zur Rolle der Technik als handelnder Akteurin und der Frage, wie weit bereits die Infrastrukturanbietenden wissenschaftliche Daten produzieren.
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Leiterin Geschäftsstelle e-manuscripta.ch |
Monster, Pol und Taprobana – entdecken und verorten
16.02.2023
Wir laden Interessierte zur Expedition durch eine Auswahl der ältesten und schönsten Atlanten der ZB ein. Erkunden Sie die Welt auf über 2900 Landkarten des 15.-17. Jahrhunderts und forschen Sie mit, indem Sie diese online geografisch verorten.
Restauriert, digitalisiert und erschlossen
Aus den Tausenden von Atlanten der Abteilung Karten und Panoramen der ZB wurde eine repräsentative Auswahl der prachtvollsten Exemplare zusammengestellt, um sie zu digitalisieren und der Öffentlichkeit kostenlos auf e-rara zur Verfügung zu stellen.
Vorgängig reinigte und sicherte die Bestandserhaltung der ZB die kostbaren Bücher. Zum Teil waren auch aufwändige Restaurierungsarbeiten an den Objekten erforderlich, bevor sie gescannt werden konnten.
Nach diesen Arbeiten wurden die Atlanten im Verlauf des Jahres 2022 bis auf Ebene der einzelnen Karte erschlossen. Auf diese Weise ist es jetzt Forschenden und allen anderen schneller möglich, auf e-rara eine einzelne Karte aus den Atlanten zu finden. Diese kann darauf heruntergeladen oder in einem IIIF-Viewer mit anderen Ressourcen verglichen werden.
«Prachtsatlanten – alte Landkarten georeferenzieren»
Auf der erwähnten Erschliessungsarbeit basiert letztlich auch das aktuelle Citizen Science-Projekt zu den Prachtsatlanten: Interessierte untersuchen und verorten online Landkarten auf intuitive Weise, in dem sie auf einer alten und einer neuen Karte identische geographische Objekte identifizieren und diese markieren.
Die Karten werden darauf geometrisch «zurechtgerückt» und damit leichter les- und vergleichbar gemacht.
Bisweilen trifft man bei der Georeferenzierung auf herausfordernde und spannende Knacknüsse. Zu entdecken gibt es auf der Forschungsreise zudem Rätselhaftes und Erstaunliches.
Phantastische Inseln
Überraschend dürften ebenso imaginäre Inseln wie «Frislant» und die legendären Inseln «S. Brandain» und «Brasil» sein. Solche Phantominseln hielten sich mitunter nachhaltig auf alten Karten, wie das angeblich westlich von Irland gelegene paradiesgleiche «Brasil» zeigt: Zum ersten Mal im 14. Jahrhundert auf Dulcerts Seekarte erscheinend aber bereits in Jahrhunderte älterer Legenden fassbar, ist es noch bis ins 19. Jahrhundert auf kartographischen Produkten zu finden.
Die grösste der drei, «Frislant», verdankt ihre Existenz einzig der Vorstellungskraft und Absicht von Nicolo Zeno (1515-1565) aus Venedig. Zeno verfasste einen frei erfundenen Reisebericht, mit dem er zu beweisen hoffte, dass seine Ahnen und nicht etwa Kolumbus Amerika zuerst erreicht hätten. Das Eiland ist noch auf Karten des 18. Jahrhunderts zu finden.
Wandernde Insel und verkehrtes «N»
Neben den phantastischen Inseln gibt es auch solche, die auf Karten wandern. So wurde der geographische Name «Taprobana» im Lauf der Zeit für verschiedene Eilande verwendet. Bereits Autoren der Antike kannten eine Insel von angeblich enormer Grösse vor der indischen Küste, die heute Sri Lanka heisst.
Karten von Taprobana finden sich auch in den beiden ältesten Ressourcen des Projekts, den Ptolemäus-Ausgaben der Jahre 1482 und 1486. Die Holzschnittkarten sind farbenprächtig koloriert. Sie unterscheiden sich in der Farbgebung und der ebenfalls von Hand ausgeführten Schattierung der Gebirgsdarstellung.
Ein Vergleich der Karten der Insel zeigt, dass für die jüngere Ausgabe von 1486 der Druckstock der älteren wiederverwendet wurde. Zu erkennen ist dies neben den identischen Massen des Kartenfelds und -inhalts auch am auffälligen seitenverkehrten «N» im Namen der Insel. Dieses ist charakteristisch für Johannes Schnitzer von Armsheim, der sich in der Ausgabe von 1486 auf der Karte zur Oikumene – der bewohnbaren Welt – als Formschneider zu erkennen gab: «Insculptum est per Johanne Schnitzer de Armßheim». Es ist das erste Mal, dass sich ein solcher auf einer im Druck erschienen Karte verewigt.
Der Humanist und Kosmograph Sebastian Münster (1488-1552) gab einige Jahrzehnte später Sumatra als Taprobana wieder. In seiner Cosmographia von 1540 heisst es:«[…] Taprobanam insulam hodie vocant Sumatram». Diesen Irrtum wie auch die angeblich enormen Ausmasse der Insel korrigiert später der berühmte Geograph und Kartograph Gerhard Mercator (1512-1594).
Innovativer Kartograph und Nordpol
Gerhard Mercator (1512-1594) darf für das 16. Jahrhundert als der wichtigste Kartograph bezeichnet werden. 1595 erscheint posthum und unter Federführung seines Sohnes Rumold (1541-1599) der dritte Teil seines wegweisendem «Atlas, sive, Cosmographicae meditationes de fabrica mundi et fabricati figura»: Die darin enthaltenen Karten weisen eine einheitliche Erscheinung und ein ebensolches Koordinatensystem auf. Zudem sind sie überwiegend nordorientiert.
Für diese Art systematischer Zusammenstellung wird zudem das erste Mal die Bezeichnung «Atlas» verwendet.
Mercator ist im Atlas bildlich als Kartograph in Szene gesetzt, der zudem den magnetischen Nordpol bestimmte: Seine linke Hand ruht unmittelbar unter «America» auf dem Globus, der aus europäischem Verständnis «Neuen Welt». Die eine Spitze des Zirkels in seiner Rechten steckt im «Polus magnetis», dem magnetischen Nordpol, der von enormer Bedeutung für die Navigation ist.
Auf Mercators Karte besteht das Nordpolargebiet aus vier – aus heutiger Sicht imaginären – Inseln. Zwischen diesen fliessen Meeresströme auf einen «Polus Arcticus» zu, um in einem Wasserschlund zu verschwinden. Davon abgesetzt ist der «Polus magnetis» zu erkennen, auf den Mercator im Porträt die Zirkelspitze setzt.
Terra incognita
Im Schlepptau der europäischen Expansion ab dem 15. Jahrhundert gerieten empirische Erfahrungen zunehmend in Widerstreit mit tradiertem Wissen. Beobachtungen, topografische Aufnahmen und Reiseberichte führten dazu, dass sich überlieferte Überzeugungen nicht mehr halten liessen. Es zeigt sich bisweilen eine spannungsvolle Gleichzeitigkeit von Tradition und Innovation.
Im Strassburger Ptolemäus von 1513 findet sich zum einen ein alter Kartenteil, welcher auf den tradierten Aufzeichnungen von Claudius Ptolemäus aus dem 2. Jahrhundert basiert. Zum anderen wurde ein neuer Kartenteil hinzugefügt, der die «Tabulae novae» beinhaltet. In letztere flossen neue geografischen Erkenntnisse ein.
Seemonster und Riesenfische
Auf den Karten einiger Prachtsatlanten finden sich neben Schiffen in grosser Zahl auch ungeheuerliche Geschöpfe, die sich im Meer tummeln. Eine Einteilung in realexistierende Lebewesen in Abgrenzung zu legendären, phantastischen Seeungeheuern, die sich der Empirie entziehen, entspricht der heutigen Sichtweise.
Für zeitgenössische Betrachtende von Karten des Mittelalters und der Renaissance war diese Unterscheidung weniger klar. Monsterhaft konnte für Seefahrer auch ein grosser Wal erscheinen, zumal die damaligen Schiffe im Vergleich zu heutigen viel kleiner waren.
Das «Meerpfaerdt» dieser Karte findet sich neben anderen realexistierenden und mirakulösen Lebewesen in Conrad Gessners (1516-1565) wunderbarem «Fischbuoch : das ist ein kurtze, doch vollkommne Beschreybung aller Fischen so in dem Meer und süssen Wasseren, Seen, Flüssen oder anderen Bächen jr Wonung habend, sampt jrer waren Conterfactur.»
Das Projekt ist Teil des strategischen Schwerpunkts Citizen Science der Zentralbibliothek Zürich.
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Mitarbeiter Abteilung Karten und Panoramen |
Visualisierungen sind Arbeit am Gedanken: Zur Komplexität von Daten-Visualisierungen in Wissenschaft, Kultur und Medien
05.01.2023
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Ist Ihnen aber aufgefallen, dass Daten-Visualisierungen exakt mit dem übereinstimmen, was Autoren Ihnen erzählen? Dass Autorinnen Ihnen mit tausend Worten erklären, was Sie sehen (sollen)? Daten-Visualisierungen sind keinesfalls immer selbsterklärend. Visualisierungen sind also nicht nur Illustrationen: Sie stellen Daten dar, die in einer bestimmten Art angeordnet wurden.
Diese Anordnung benötigt eine Erklärung, weil Visualisierungen eine ganze Reihe von Überlegungen und Ressourcen in sich bündeln, die nicht immer sichtbar sind. In einem Workshop im Rahmen der Willy-Bretscher-Fellowships in der ZB zeigten sechs Personen aus Wissenschaft und Praxis, wie komplex Visualisierungen sind.
Visualisierungen als Arbeit am Gedanken
Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass nicht nur «Arbeit an der Sprache Arbeit am Gedanken ist», sondern auch das Erstellen von Visualisierungen Arbeit am Gedanken ist. Visualisierungen sind oft nicht bloss eine Veranschaulichung von Daten, die bestimmte Anordnung von Daten ermöglicht darüber hinaus mehr und anderes sichtbar und damit erkennbar zu machen.
Gleichzeitig haben sich die Produktionsbedingungen von Visualisierungen im letzten Vierteljahrhundert radikal geändert: Es stehen mehr Daten (in maschinenlesbaren Formaten) zur Verfügung, und die Verarbeitungstechnologien sind vielfältiger und einfacher zu handhaben. Dies birgt die Gefahr, Visualisierungen als gegeben und als Kinderspiel zu betrachten. Dabei sollten wir uns bewusst machen, dass mehr Daten mehr Kontext erfordern, um Visualisierungen zu verstehen, und dass Visualisierungen nicht nur vermitteln, sondern auch belehren und überzeugen wollen.
Visualisierungen stellen Konzepte der Sozial- und Wirtschaftspolitik dar
Claire-Lise Deblüe zeigte, wie die Sozialmuseen gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit neuen Formen der Darstellung der sozialen Welt experimentierten, um sozialpolitische und wirtschaftliche «Tatsachen» und Konzepte für die Bevölkerung verständlich zu machen. Als Beispiel kann hier die Apparatur zum Finanzhaushalt der Eidgenossenschaft im Schweizerischen Sozialmuseum Zürich (1917-1941) dienen (Abbildung 1). Die Wahl einer Waage als Apparat zur Symbolisierung deutet darauf hin, dass der Grundsatz des Gleichgewichts der Finanzen eine wichtige Rolle bei der Vermittlung spielen sollte. Das Beispiel zeigt, dass Visualisierungen einerseits eine Bildungsabsicht verfolgen und andererseits, dass Konzepte in Visualisierungen einfliessen.
Abbildung 1: Die Einnahmen und Ausgaben der Schweizerischen Eidgenossenschaft als Apparat dargestellt. Im Schweizerischen Sozialmuseum Zürich (1917-1941), gegründet von Paul Pflüger, dem Gründer des Schweizerischen Sozialarchivs. Der Hauptzweck der Sozialmuseen war die gesellschaftspolitische Bildung der Menschen.
Visualisierungen sind Denkwerkzeuge
Die Finanzhaushalt-Apparatur des Sozialmuseums zeigt aber auch auf, dass Visualisierungen Werkzeuge sein können, mit denen operiert werden kann: So kann der Finanzhaushalt in der Abbildung 1 manuell verändert werden. Diesen Aspekt der Operationalität von Visualisierungen betonte Noah Bubenhofer. Anhand des geometrischen Beweisbildes in der bekannten Darstellung in Platons Menon zeigte Bubenhofer, dass mit Visualisierungen operiert werden kann, um zu neuen Einsichten zu gelangen. Die Aufgabe, die Menon seinem Sklaven stellt, besteht darin die Seitenlängen eines Quadrates zu finden, das die doppelte Fläche eines ursprünglichen Quadrats hat.
Der erste Gedanke ist es die Seitenlängen des ursprünglichen Quadrates zu verdoppeln (Abbildung 2). Dies führt jedoch zu einer Fläche, die viermal so gross ist, wie die ursprüngliche Fläche. Der erste Gedanke führt zwar nicht unmittelbar zur richtigen Lösung, aber die neue Visualisierung mit vier Quadraten macht die richtige Lösung sichtbar. Um die ursprüngliche Fläche zu verdoppeln, müssen bloss die vier Diagonalen der neuen Quadrate aus dem ersten Lösungsschritt verbunden werden. Bubenhofer plädierte für ein systematischeres An- und Umordnen, um neue Perspektiven zu erhalten, die Gewohnheit der Nutzenden zu überlisten und die Traditionen eines Faches zu umgehen.
Abbildung 2: Die Verdoppelung des Quadrats in Platons Menon. Durch geschicktes operieren mit der ursprünglichen Visualisierung (dem Quadrat) kann die Frage nach der Verdoppelung der Fläche beantwortet werden.
Karten sind hybride Visualisierungen von Text, Bild und Zahl
Die Möglichkeiten der An- und Umordnungen sind zwar grundsätzlich nicht limitiert, jedoch bestimmt der «Zeitgeist», welche Möglichkeiten überhaupt in Betracht gezogen werden. In diesem Sinne betonte Daniel Ursprung, dass sich in Kartenvisualisierungen Technik, Macht und Ideologie, die allesamt zeitspezifisch sind, verdichten. So wurde der berühmte Liniennetzplan der London Underground von Charles Beck auf der Idee von elektrischen Schaltplänen entworfen. Vor Beck wurden die U-Bahnlinien topographisch «richtig» auf der Basis eines Stadtplans dargestellt. Becks neuer Liniennetzplan wurde zunächst abgelehnt, weil die relativen Entfernungen von einer Station zu den anderen nicht angezeigt wurden.
Die radikale Neuerung war, dass dank dem elektrischen Schaltplan alle Stationen mehr oder weniger gleichmässig verteilt waren. Beck fand, dass Passagiere sich nicht um geographische Genauigkeiten scherten, sondern einfach von einem Bahnhof zu nächsten gelangen wollten. Nicht die Distanz der Stationen untereinander war entscheidend, sondern nur die räumliche Beziehung. Letztlich bestimmen also auch die Sehgewohnheiten, die Ästhetik und die technischen Möglichkeiten das Denk- und Machbare. Schliesslich wies Ursprung darauf hin, dass die grundlegenden Gestaltungsprinzipien oft seit langem bekannt seien, die Umsetzung in der konkreten Umgebung und in der Kombination verschiedener Stilmittel aber manchmal neu sein können, wie das Beispiel der Londoner U-Bahn zeigt.
Anfertigung der Inhalte durch ihre Visualisierungen
Viele Daten bedeuten in erster Linie viel «Rauschen», aus dem durch Operieren und Visualisieren ein konkretes «Signal», d.h. eine für eine bestimmte Frage relevante Aussage extrahiert werden kann. Peter Moser zeigte exemplarisch anhand der Entwicklung der Stimmbeteiligung an Volksabstimmungen im Kanton Zürich seit 1945 auf, wie man Visualisierungen als exploratives Werkzeug verwenden kann, um zu Erklärungen zu gelangen. In den Daten ist zunächst eine konstante Stimmbeteiligung seit den 1970er Jahren zu erkennen, aber auch eine starke Abnahme zwischen 1945 und 1970 (Abbildung 3). Hier zeigt sich, dass viele Daten auch viel Kontext zur Erklärung benötigen. Bevor sich die visuelle Entwicklung der Stimmbeteiligung erklären lässt, müssen in diesem Beispiel u.a. die mehrfache Erweiterung der Stimmbürgerschaft (Frauenstimmrecht, Stimm- und Wahlrechtsaltersenkung von 20 auf 18 Jahre, Stimmrecht für Auslandschweizerinnen und -schweizer), die Veränderung der Modalitäten der Abstimmungsteilnahme (formelle Stimmpflicht bis 1984, briefliche Abstimmung) und auch die Art und die Anzahl der Vorlagen (Verdreifachung der Bundesvorlagen seit den 1970er Jahren) berücksichtigt werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bereits seit den 1960er Jahren die Stimmpflicht immer weniger durchgesetzt wurde. Ein deutlicher Rückgang um 10 Prozentpunkte ist bei der Einführung des Frauenwahlrechts zu verzeichnen (Abbildung 4). Dies lag zum einen an der deutlich geringeren Wahlbeteiligung der neu hinzugekommenen Frauen, zum anderen aber auch daran, dass die Bestrafung der Wahl- und Stimmenthaltung faktisch abgeschafft wurde. Moser plädierte für ein pragmatisches Vorgehen, warnte aber auch vor voreiligen Schlüssen, da Visualisierungen letztlich auch «falsche» Aussagen generieren können.
Abbildung 3: Die Stimmbeteiligung im Kanton Zürich 1945–2022
Abbildung 4: Die Stimmbeteiligung und die Einführung des Frauenstimmrechts im Kanton Zürich, 1945–2022
Prozesse generativer Visualisierung
Das Finden und Gestalten eines «Signals» in den Daten kann mit den heutigen Computertechnologien auch losgelöst von der Kontrolle der Forscherin erfolgen. Max Frischknecht betonte diesen Aspekt, in dem er den digitalen Prozess der generativen Gestaltung von Visualisierungen in den Fokus rückte. Die Generative Gestaltung ist hierbei eine Entwurfsmethode, die insbesondere in der Kunst und Architektur sowie im Kommunikations- und Produktdesign verwendet wird. Die Software entwirft selbstständig eine Reihe von Visualisierungen anhand der Anforderungen, die der Gestalter festgelegt hat (z. B. Algorithmus, Quellcode, Eingabewerte, siehe Abbildung 5). Es gibt dabei drei Möglichkeiten der Aufgabenteilung zwischen Gestalterin und Computer: Die Gestalterin kreiert und der Computer unterstützt (digital-manuelle Visualisierung), der Gestalter konzeptualisiert und kreiert und der Computer führt aus (digital-generative Visualisierung), oder die Gestalterin modelliert und der Computer kreiert (digital-autonome Visualisierung).
Frischknecht betonte ähnlich wie Moser und Bubenhofer, dass mit dem Computer grafische Bilder in unlimitierter Weise überlagert, nebeneinandergestellt und transponiert werden können und dass Visualisierungen dadurch nicht mehr nur Illustrationen darstellen, sondern zum Forschungsinstrument werden. Allerdings ist zu bedenken, dass die Gestalterin nicht unbedingt ein Mensch sein muss, sondern auch eine künstliche Intelligenz diese Rolle übernehmen könnte. Hier besteht die Gefahr, dass die Betrachter der Visualisierung nicht mehr eruieren können, worauf sie beruht.
Abbildung 5: Der Prozess der generativen Gestaltung
Die Bündelung von Ressourcen
Daten-Visualisierungen brauchen nicht nur Kontext, sondern auch spezifisches und vielfältiges Wissen, um überhaupt dargestellt werden zu können. Kaspar Staub gab einen Einblick in die Entwicklung eines Daten- und Visualisierungshub zu vergangenen Pandemien in der Schweiz. Er zeigte auf, wie viele Ressourcen gebündelt werden müssen, um sinnvolle Geschichten aus Daten zu gewinnen: Finanzielle Mittel sowie die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Forschungsgruppen der Universität Zürich (Historisches Seminar, Institut für Geographie, Institut für Evolutionäre Medizin) und der Schweizer Hochschule für Angewandte Wissenschaften (Institut für Angewandte Medienwissenschaften). Dazu kamen für die technische Implementierung die Verbindung von IT, Data Science and Data Storytelling durch eine Programmiererin und eine Interfacegestalterin, die Nutzung von Konzepten und Theorien der Visualisierung und des Storytellings, aber auch der umsichtige Umgang mit historischen Quellen. Staub betonte, dass historische Daten nur durch die Zusammenarbeit von verschiedenen Personen aus unterschiedlichen Fachbereichen mit verschiedenen Kompetenzen angemessen erforscht und dargestellt werden können.
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ZB Willy-Bretscher-Fellow 2022/2023 |
100 manuelle Transkriptionen als Grundlage für die Künstliche Intelligenz
29.06.2022
Die Künstliche Intelligenz hat auch im Bereich der Editionswissenschaften Einzug gehalten und vermag mittlerweile recht gut Handschriften aus dem 18./19. Jahrhundert automatisch zu erkennen. Gemeinsam mit der Zentralbibliothek können Sie dazu beitragen, ein digitales Editionsprojekt vorzubereiten: Wir benötigen bis Ende Jahr 100 manuelle Transkriptionen von Briefen von Hans Georg und Hermann Nägeli. Die ZB bewahrt die Korrespondenz und den Nachlass der beiden auf.
Einflussreicher europäischer Musikverleger, Komponist und Musikpädagoge
Im kommenden Jahr soll zum 250. Geburtstag von Nägeli ein gross angelegtes Digitalisierungs- und Editionsprojekt der Korrespondenz von Hans Georg Nägeli (1773–1836) und seines Sohnes Hermann Nägeli (1811–1872) starten. Das Projekt ist unter der Leitung von PD Dr. Louis Delpech in enger Zusammenarbeit mit dem Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich geplant.
Hans Georg Nägeli gilt bis heute als eine der herausragendsten Persönlichkeiten nicht nur der Zürcher, sondern gar der europäischen Musikgeschichte. Er druckte 1794 als erstes eigenes Verlagsprodukt sein bis heute noch gesungenes Arrangement des Gesellschaftslieds «Freut euch des Lebens», verfasste bedeutende musikalische Lehrwerke und gab Musikstücke von Komponisten wie Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven oder Georg Friedrich Händel erstmals heraus. Mit der Gründung seines «Singinstituts» setzte er sich für den Aufbau eines alle Volksschichten umfassenden Chorwesens ein und ermunterte seine Zeitgenossen eifrig dazu, weitere Kinder- und Männerchöre zu gründen. Darüber hinaus schrieb er Hunderte von Vokal- und Chorwerken und erhielt dafür schon bald den Übernamen «Sängervater». Nägeli war aber nicht nur Komponist, Musikverleger und Pädagoge mit europaweitem Renommee; ebenso engagiert trat er auch als Schriftsteller und Politiker in Erscheinung. Ab 1831 wirkte er bis zu seinem Tode als Zürcher Erziehungs- und Grossrat. Sein Sohn Hermann Nägeli setzte als Geschäftsnachfolger die Tätigkeiten seines Vaters fort.
3’000 Nägeli-Briefe in der ZB
Der Nachlass von Hans Georg Nägeli gehört zu den bedeutendsten musikhistorischen Nachlässen der ZB. Rund 3000 Briefe haben sich in unserem Bestand erhalten und bezeugen die verschiedenen Facetten der Tätigkeiten und Interessen. Neben privaten Mitteilungen finden sich viele geschäftliche Korrespondenzen darunter, die er mit europäischen Musikverlagen, Pädagogen im Umfeld von Johann Heinrich Pestalozzi, international bedeutenden Musikern und musikalischen Gesellschaften austauschte. Sein Sohn Hermann fertigte Abschriften von Briefen an, korrespondierte jedoch auch selbst. Die Privat- und Geschäftskorrespondenz der beiden bietet die einzigartige Möglichkeit, das musikalische Selbstverständnis der Schweiz um 1800 und die europäische Reichweite von Zürcher Netzwerken aus musikhistorischer Perspektive kennenzulernen.
Seien Sie Wegbereiter der ersten digitalen Nägeli-Edition!
Zu den wichtigen ersten Arbeiten für die digitale Edition gehört es, eine gewisse Anzahl transkribierter Briefseiten als Trainingsmaterial zu erstellen. Hierfür bitten wir Sie um Ihre Unterstützung! Im Transkriptionstool von e-manuscripta.ch erstellen Sie Ihre Abschrift vom Digitalisat des Briefes und schicken diese zur Freigabe an die Redaktion. Die Transkriptionen werden zunächst auf e-manuscripta.ch aufgeschaltet. Anschliessend sollen diese vom Editionsteam dazu genutzt werden, mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz ein Handschriftenerkennungsmodell zu erstellen, das es erlaubt, die weiteren Briefe der beiden Nägelis und ihrer Korrespondenzpartner automatisch zu transkribieren. In der englischen Fachterminologie nennt man dieses Verfahren «Handwritten Text Recognition», abgekürzt «HTR».
Transkribieren Sie mit uns Nägeli-Briefe
Wir laden Sie hiermit ein, zusammen mit uns ausgewählte Briefe von Hans Georg und Hermann Nägeli zu transkribieren. Bereits haben wir 50 Briefe von Hans Georg digitalisiert und auf e-manuscripta.ch zur Transkription freigeschaltet. Davon sind schon 23 Briefe fertig transkribiert oder in Arbeit. Ab heute, dem 29.6. werden wir dort wöchentlich fünf Briefe von Hermann Nägeli publizieren. Unser Ziel ist es, bis Ende Jahr von beiden Nägelis je 50 Briefe zu transkribieren. Weitere Informationen zu den Briefen und zum Transkribieren finden Sie hier.
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Abteilungsleiter Digitale Produktion und Plattformen |
Zürcher Familiengeschichte – Der «Keller-Escher» wird digital
15.06.2022
In Zürich gibt es eine lange Reihe alter Bürgergeschlechter, deren Angehörige die Geschichte der Stadt seit dem Mittelalter prägten. Zürcher Bürgersinn hat deswegen schon früh die Erforschung der Geschichte der einzelnen Familien und ihrer Mitglieder befördert. Besonders dabei hervorgetan hat sich Carl Keller-Escher, 1851-1916, aus dem alten Geschlecht der Keller vom Steinbock. Der rührige Familienforscher hat die Stammbäume und Abstammungslinien von über 250 Altzürcher Familien von Aberli bis Zoller akribisch erforscht und handschriftlich aufgezeichnet. In sieben grossformatigen Bänden mit dem etwas sperrigen Titel «Promptuarium genealogicum» finden sich die Ergebnisse seiner Recherchen. Die meisten heutigen Benutzenden reden einfach nur vom «Keller-Escher». Nach dem Tod des Forschers 1916 schenkte seine Witwe Anna Maria, geborene Escher vom Glas, das Werk der gerade erst eröffneten Zentralbibliothek. Die Bände werden heute in der Handschriftenabteilung aufbewahrt.
Wer aber war Carl Keller-Escher? Im Organ der Schweizerischen Heraldischen Gesellschaft ist nach seinem Tod ein Nachruf erschienen, der einen guten Überblick über seine Forschungen auf dem Gebiet der Genealogie und der Heraldik gibt.
Allerdings war Carl Keller-Escher im Hauptberuf Pharmazeut: Von 1879 bis 1904 amtete er als Zürcher Kantonsapotheker. Die unten abgebildete Dankesurkunde vom Apothekerverein des Kantons Zürich aus dem Jahr 1904, zu Kellers 25-jährigem Jubiläum und Rücktritt von seinem Amt angefertigt, zeigt uns, wie gross sein Ansehen auch als Naturwissenschaftler war.
In seiner Freizeit war Carl Keller-Escher ein passionierter Fotograf. Auf www.e-manuscripta.ch finden sich heute etliche von ihm angefertigte Aufnahmen. Die erhaltenen Beispiele datieren fast alle aus dem Jahr 1891: Die seltene «Seegfrörni» – das komplette Überfrieren des Zürichsees – war damals der Anlass für vielfältige Vergnügungen und ein reges Stelldichein der Zürcherinnen und Zürcher auf der Eisfläche vor der Stadt. Für einen Fotografen war das natürlich ein gefundenes Fressen. Auch manche Zürcher Prominente der damaligen Zeit kamen ihm dabei vor die Linse, z.B. Schulpräsident Heinrich Paulus Hirzel.
Am Beispiel von Schulpräsident Hirzel zeigt sich in exemplarischer Weise die Bedeutung, die Carl Keller-Eschers genealogischen Forschungen heute noch zukommt: Die sogenannte «Gemeinsame Normdatei» (GND), die zentrale Nachweis- und Norm-Datenbank für Personen, Körperschaften, Kongresse, Geografika, Sachschlagwörter und Werktitel, führt als Quelle für die ausführlichen Personendaten zu Heinrich Paulus Hirzel das Werk von Carl Keller-Escher an.
Der Forscher legte dieses heute unersetzliche Nachschlagewerk nicht zum Selbstzweck an. Es war ihm Quelle für verschiedene Auftragswerke, gedruckte Monographien – etwa zur Geschichte der Familie Grebel oder den Escher vom Glas. Auch diente es ihm als Grundlage zur Beantwortung familiengeschichtlicher Anfragen. In den Jahren nach Keller-Eschers Tod waren die Bände, nun öffentlich zugänglich in der Zentralbibliothek Zürich, nicht nur für Familienforschende, sondern für alle, die sich mit Zürcher Geistes- und Kulturgeschichte befassen, unverzichtbar. Leider hat die intensive Benutzung über mehr als 100 Jahre Spuren hinterlassen. Einband und Papier sind heute stark geschädigt. Um den «Keller-Escher» auch in Zukunft zu bewahren, ihn aber zugleich unseren Nutzerinnen und Nutzern bestmöglich zur Verfügung stellen zu können, haben wir die Bände digitalisiert und auf www.e-manuscripta.ch veröffentlicht:
Band 1 (A bis B), Band 2 (C bis F), Band 3 (G bis Holzhalb), Band 4 (H bis Lavater), Band 5 (Leemann bis Nüscheler), Band 6 (O bis Schulthess), Band 7 (Sp bis Z)
Das Layout der Bände ist doppelseitig angelegt. Jeweils rechts beginnt der Haupteintrag zu einer neuen Familie. Zunächst wird meist ein kurzer Abriss der jeweiligen Familiengeschichte gegeben. Handelt es sich um eine grössere Familie, findet sich eine schematische Darstellung des Stammbaums. Danach werden in aufsteigender Zählung die (männlichen) Namensträger genannt; Ehefrauen und Kinder folgen, soweit bekannt. Die Nummerierung der Personen ist durchgehend. Von der eigentlichen Personennummer mit einem Punkt abgetrennt ist die als Verweis hinzugefügte Nummer des Vaters.
Da heute nicht alle Interessierten die altertümliche Handschrift Keller-Eschers ohne Schwierigkeiten entziffern können, möchten wir den Text mit der Hilfe von Lesekundigen im Transkriptionstool von e-manuscripta transkribieren und online für alle zur Verfügung stellen.
Wollen auch Sie mithelfen? Bringen Sie mit uns die Stammbäume von Stadtzürcher Geschlechtern wie den Bosshard, Erni, Füssli, Keller, Pestalozzi oder Stucki ins Internet!
Erfahren Sie mehr an unserem Workshop vom 2. Juli 2022.
Das Projekt ist Teil des strategischen Schwerpunkts Citizen Science der Zentralbibliothek Zürich.
Haben Sie Fragen/Anmerkungen zum Projekt? Melden Sie sich bei uns!
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Stv. Leiter Handschriftenabteilung |
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Handschriftenabteilung |
Der Stammbaum spricht ...
... ein etwas anderer Einblick in die Bestandserhaltung
31.05.2022
Thomas Raff schreibt in seinem Buch «Die Sprache der Materialien», dass, «wer die Aussage eines Kunstwerkes verstehen will, auch die Sprache seiner Materialien verstehen muss. »
Im letzten Jahr fand ein eher ungewöhnliches Objekt in unserem Alltag von Büchern und Briefen seinen Weg in die Werkstatt der Bestandserhaltung, der Stammbaum der Familie Simmler.
Wenn auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Ikonologie von Werkstoffen oder einer Katalogsbeschreibung wurde während der Restaurierung die Sprache der Materialität dieses Objektes zu einem geflügelten Wort.
«Der Stammbaum spricht!»
Wir liessen uns von der Sprache der Materialität leiten, daraus wurde eine Art Kommunikation, ein Zuhören, Spüren und Finden des Weges. Daran würden wir Sie gerne teilhaben lassen.
Ausgangspunkt
Der Stammbaum kam in die Werkstatt, grossformatig, angegriffenes Papier, mit Gewebe doubliert, wie eine Karte mit Holzstangen versehen, gerollt und handgemalt. Das Objekt hing mit Sicherheit einige Jahre wie eine Schulkarte ungeschützt in einem Raum und zeigte deutliche Schäden.
Was damit tun? Wie es aufbewahren?
Laut Auskunft der Handschriftenabteilung ist der Stammbaum wahrscheinlich zwischen 1700 und 1710 entstanden und ist durch die Hochzeit von Catharina Simmler mit Hans Jacob Fäsi im Jahr 1749 in den Besitz der Familie Fäsi gelangt. 2019 wurde er mit einer familiengeschichtlichen Sammlung der Familie Fäsi in die ZB transferiert.
Wie sieht das Objekt aus? Von was reden wir?
Um eine Restaurierungsvorgehensweise festzulegen, ist es vorab wichtig zu definieren, in welchem Zustand sich das Objekt befindet und was das Ziel ist.
Der Stammbaum im Format 101 cm x 111 cm wurde auf 6 Einzelblätter, die auf einer Leinwand zu einem grossen Format geklebt wurden, gemalt. Die Schriftfelder wurden mit Eisengallustinte beschrieben. Dargestellt ist ein Baum mit Ästen und Verzweigungen, eine Landschaft im Hintergrund und verschiedene Personendaten mit entsprechenden Wappen. Die linke und die rechte Kante wurden mit einem 1 cm breiten, schwarzen Rand versehen. An der oberen und unteren Kante war je ein Holzstab angebracht, um den Stammbaum aufhängen zu können.
Er ist ein Unikat und besitzt eine Wichtigkeit für die familiengeschichtliche Sammlung.
Er hing wahrscheinlich für eine gewisse Zeit ungeschützt in einem Wohnraum und wurde später gerollt aufbewahrt. Beides hat neben den alterungsbedingten Schäden mechanische Schäden hervorgerufen. Um das Objekt in der ZB lagern zu können, sollte es gesichert und möglichst adäquat verpackt werden.
Schadensbild
Man findet Oberflächenschmutz und Staub. Das Papier ist generell sehr fragil, an manchen Stellen abgebaut. Alle Kanten, die schwarz eingefasst sind, weisen Risse, Knicke und Fehlstellen auf.
Durch die gerollte Lagerung sind Risse, Knicke und sich ablösende Partikel entstanden. Auch durch das Rollen wurden Quetschfalten verursacht.
Es gibt eine grosse Fehlstelle in der oberen Mitte und viele Risse im Bereich der angebrachten Holzstangen.
Auf der Rückseite finden sich alte Reparaturen in Form von Flicken aus Leinen, gummierten Packpapier und Selbstklebestreifen.
Die gesamte Karte ist leicht bräunlich und die Farben sind ausgebleicht. Wasserlöslichkeitstests (siehe Foto) ergaben, dass die rote Farbe wasserlöslich ist, blau und grün sind wasserempfindlich.
Im Bereich der Tinte liegt Tintenfrass vor.
Was sagt uns der Stammbaum also hier? Die Schäden sind so hervortretend, dass sie vor einer endgültigen Lagerung in der ZB behandelt werden müssen. Durch die Wasserempfindlichkeit des Objektes sollte möglichst trocken gearbeitet werden.
Restaurierungsvorgehen
Das Format, die Doublierung, die Wasserempfindlichkeit und die Papierschäden sind zusammen betrachtet eine grosse restauratorische Herausforderung. Die Vorgehensweise geschieht Stück für Stück, in kleinen Schritten. Entsprechend kann man immer in der Aufmerksamkeit, wie sich das Objekt verhält (hier das Papier, das Gewebe und die Farben), sofort reagieren und sich auf neue Begebenheiten einstellen.
Schritt 1: Lösen der Holzstangen und Schritt 2: Trockenreinigung
Diese ersten 2 Schritte waren problemlos durchführbar und leiteten uns zu:
Schritt 3: Lösen der Leinwand, Entfernung alter Leimreste und sofortiges Schliessen der Risse mit Japanpapier und Unterfassen von Knickstellen und Quetschfalten
Wegen des Schadens und der Wasserempfindlichkeit arbeiteten wir in Quadraten von 2 cm x 2 cm bis zu 4 cm x 4 cm an den verschiedenen Enden des Objektes. Das Gewebe wurde möglichst trocken gelöst, der Leim mit einem Kissen, welches kontrolliert die Feuchtigkeit abgibt, angelöst und mit einer Skalpellspitze Millimeter für Millimeter abgehoben. Das Papier trockneten wir sofort mit einem Glättkolben oder leicht beschwert, schlossen dann die Risse von hinten und unterfassten die Knicke und Falten bevor wir die Nachbarstelle bearbeiteten.
Wie lange braucht man zum Anlösen der jeweiligen Stelle? Was passiert mit der Farbe während der Feuchtigkeitszufuhr? Wie reagiert die unterschiedlich abgebauten bzw. geschädigten Papierstellen? Wie die Falten? Wie die Risse? Was sagt der Stammbaum? Was sagt das Material?
Immer wieder musste reagiert werden…eine zusätzliche Schutzschicht, um die rote Farbe zu fixieren…eine spezielle Trocknungstechnik…länger warten…schneller vorgehen…in noch kleineren Quadraten arbeiten…Anlösetechnik ändern…Geduld und immer wieder: Hör dem Stammbaum zu!
Nachdem das Objekt in der Form gesichert war, folgte Schritt 4: Ergänzung der Fehlstellen, um wieder eine Materialebene schaffen zu können.
Schritt 5: Kaschieren in 6 Stücken aus Japanpapier
Wieder ein herausfordernder Arbeitsschritt! Die Kaschur ersetzt die Leinwand. Um eine bessere Kontrolle zu haben, kaschierten wir das Objekt in 6 Etappen.
Die Herausforderung: Unterschiedliches Dehnungsverhalten bei der Feuchtigkeitszufuhr, Gefahr der Bildung von Falten und unterschiedlichen Spannungsverhältnissen, wellige Objektoberfläche, Feuchtigkeitsempfindlichkeit der Farben.
Immer wieder mussten wir während des Arbeitsprozesses prüfen, wie das Objekt reagiert und eventuell einen zusätzlichen Arbeitsschritt einfügen.
Schritt 6: Spannen
Nach dem Schliessen der Risse und dem Ergänzen der Fehlstellen wies der Stammbaum viele wellige Stellen auf. Um ihn plan legen zu können, wurde der Stammbaum nun durch gezieltes Feuchten und Trocknen mit Hilfe eines Spannrandes unter Spannung auf einem Brett gespannt.
Diesen Prozess muss man je nachdem bis zum gewünschten Ergebnis mehrmals wiederholen.
Schritt 7: Da das Objekt unter anderem von seiner Bildsprache geprägt ist, entschlossen wir uns zu einer Retusche der hervorstechenden Fehlstellen, um wieder ein Gesamterlebnis zu erlauben.
Der schwarze Rand wurde nicht retuschiert, da die farblichen Lücken dort nicht zu einer Entfremdung der Gesamtaussage führen, sondern die Geschichte des Schadens erzählt.
Schritt 8: noch auszuführen; Montage für endgültige Lagerung
Abschluss
Somit ist die Restaurierung des Stammbaums abgeschlossen.
Das Verständnis der Materialität und das sich darauf Einlassen spielte eine grosse Rolle, um die Restaurierung gelingen zu lassen.
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Bestandserhaltung |
Rahn transkribieren
19.04.2022
Am 7. Mai startet mit einem Workshop das Transkriptionsprojekt der Briefe von Johann Rudolf Rahn, dem Vater der Schweizer Kunstgeschichte und Denkmalpflege.
Vater der Schweizer Kunstgeschichte und Denkmalpflege
Zehn Jahre nach der grossen Retrospektive zum 100. Todesjahr von Johann Rudolf Rahn (1841–1912) ist die Bevölkerung eingeladen zu helfen, seine handschriftliche Korrespondenz in Druckschrift zu übertragen. Rahn entstammt einem alteingesessenen Zürcher Zunftmeister- und Ratsherrengeschlecht. Aufgrund seiner Hauptschrift, der Geschichte der bildenden Künste in der Schweiz (1873–1876), gilt er heute als Vater der Schweizer Kunstgeschichte. 1878 wurde er ordentlicher Professor der Kunstgeschichte an der Universität Zürich; 1883 erhielt er zusätzlich das Ordinariat am Polytechnikum, der heutigen ETH Zürich. Seine nach Kantonen geordnete Statistik der Schweizer Kunstdenkmäler (1872–1888) markierte den Beginn einer flächendeckenden Inventarisierung schweizerischer Kulturgüter. Rahn gilt deswegen als Mitbegründer der Denkmalpflege in der Schweiz, zumal er 1880 die Vaterländische Gesellschaft für Erhaltung historischer Denkmäler, die heutige Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte (GSK), mit initiierte. Darüber hinaus war Rahn ein talentierter Zeichner, dessen Œuvre rund 5’000 Blätter umfasst. Diese geben in dokumentarischer Intention meist historischen Bauten und architektonische Details wieder.
Briefe als wichtige Quellen
Trotz Rahns Bedeutung für die Entwicklung der Kunstgeschichte als eigenständige Forschungsdisziplin in der Schweiz ist seine Korrespondenz wissenschaftlich noch nicht aufgearbeitet. Da die Briefe prominente Adressaten wie die Universitätsprofessoren Carl Brun, Jacob Burckhardt, Paul Ganz und Josef Zemp, Repräsentanten der frühen Archäologie und Denkmalpflege wie Ferdinand Keller, Albert Naef, Robert Durrer und Theodor Vetter und Vertreter des Sammlungswesens wie Heinrich Angst und Heinrich Zeller-Werdmüller umfassen, kann davon ausgegangen werden, dass sich aus den Korrespondenzen wichtige Erkenntnisse über die Anfänge der Denkmalpflege in der Schweiz, über die Entwicklung des Faches Kunstgeschichte an den hiesigen Universitäten, über das Museumswesen des jungen Bundesstaates wie auch über die Genese der Publikationen Rahns gewinnen lassen.
Transkribieren
Rahns Briefe umfassen auf knapp 10'000 Seiten einen Zeitraum von fast fünfzig Jahren, von April 1863 bis in den November 1911. Im Herbst 2021 wurden sie digitalisiert und auf e-manuscripta online veröffentlicht. Die Namensregister werden von Mitarbeitenden der ZB transkribiert, die Briefempfänger identifiziert und mit Hilfe der Gemeinsamen Normdatei GND beschlagwortet. Dies erlaubt den gezielten Zugriff auf Briefe an einzelne Korrespondenzpartner. Das Transkriptionstool von e-manuscripta bietet allen Interessierten die Möglichkeit, ausgewählte Briefe in Druckschrift zu übertragen, ihre Transkriptionen online zugänglich zu machen und so Kolleginnen und Kollegen zur Verfügung zu stellen.
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Leiter Graphische Sammlung und Fotoarchiv |
Zugang zur Medienausleihe für Sans-Papiers
Bibliotheken sollen sich für mehr Offenheit in Wissenschaft und Gesellschaft einsetzen und den Zugang zu Information für die ganze Bevölkerung möglich machen. Bibliotheken sollen barrierefrei und inklusiv sein: Das heisst einen uneingeschränkten Zugang für alle Nutzenden gewährleisten, unabhängig von ihren Einschränkungen und eine gleichberechtigte Teilhabe an unseren Angeboten. Das betrifft nicht nur Menschen mit körperlichen Einschränkungen, sondern auch solche in prekären sozialen Verhältnissen wie zum Beispiel Sans-Papiers.
Wer sind Sans-Papiers?
Sans-Papiers sind Migrantinnen und Migranten ohne geregelten Aufenthaltsstatus. Über die Anzahl der Sans-Papiers in der Schweiz gibt es keine genauen Zahlen. Nach den aktuellsten Schätzungen leben alleine im Grossraum Zürich 19’000 Sans-Papiers.
Es gibt unterschiedliche Gründe, warum eine Person Sans-Papiers wird. Primäre Sans-Papiers haben nie einen Aufenthaltsstatus in der Schweiz besessen (zum Beispiel Personen mit verfallenem Touristenvisum, nicht bewilligter Familiennachzug, Einreise ohne Visum). Sekundäre Sans-Papiers haben aus unterschiedlichen Gründen ihre Bewilligung in der Schweiz zu leben verloren (zum Beispiel ehemalige Saisonniers oder Migrantinnen und Migranten mit abgelaufener Aufenthaltsbewilligung für eine Ausbildung). Mehr Informationen zu den Sans-Papiers findet man hier.
Zusammenarbeit mit der PBZ und der SPAZ
Die PBZ Pestalozzi-Bibliothek Zürich (PBZ) und Zentralbibliothek Zürich (ZB) führen in Zusammenarbeit mit der Sans-Papiers Anlaufstelle Zürich (SPAZ) den Zugang zur Medienausleihe für Sans-Papiers ein. Ab 1. April haben Sans Papiers Zugang zur Bücherausleihe beider Häuser.
Bis anhin war die Einschreibung für ein Bibliothekskonto für Sans-Papiers in diesen beiden Institutionen nicht möglich, da ein gültiger amtlicher Ausweis für eine Mitgliedschaft nötig war. Ein Postulat des Gemeinderats der Stadt Zürich gab den Anstoss, nach Lösungen zu suchen, um auch Sans Papiers den Zugang zu Büchern und anderen Medien zu ermöglichen.
Mit dieser nun gemeinsam ausgearbeiteten Regelung machen die PBZ mit ihren 14 und die ZB, als eine der grössten Schweizer Bibliotheken, einen weiteren Schritt, der ganzen Bevölkerung der Stadt Zürich und des Kantons Zürich Zugang zur Bücherausleihe zu ermöglichen.
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IK, Digitale Dienste & Entwicklung (IDE) |
90 Jahre SJW-Hefte
„Wie fein, dass wir nun auch ein eigenes schweizerisches Jugendschriftenwerk besitzen!“, frohlockte die Schweizerische Lehrerinnenzeitung (S. 179-180) im Februar 1933 und stellte die erste Serie von zwölf Leseheften für Kinder vor, die im März 1932 im Schweizerischen Jugendschriftenwerk (SJW) erschienen war. Das 1931 gegründete SJW hatte es sich zum Ziel gesetzt, im Kampf gegen «Schund und Schmutz» dem jugendlichen Lesepublikum «gute» Literatur in Heftform zu einem günstigen Preis anzubieten (Abb. 1). Gegründet wurde es von Lehrpersonen und Jugendschriftstellern, Mitgliedern der Schweizerischen Jugendschriftenkommission und der Pro Juventute. Die Chefredaktion hatte von 1937 bis 1970 der Lehrer und Autor Fritz Aebli inne. Schon bald gab es die Hefte in den anderen Landessprachen, inzwischen sind auch Ausgaben in Englisch und in Brailleschrift erhältlich. Verkauft wurden die Lesehefte direkt an den Schulen durch die Lehrerschaft, wodurch ein effizientes und konstantes Vertriebsnetz gesichert war. Die Ausstellungsboxen für Schulen gibt es immer noch, die Leseförderung wird aber heute auch mit Lesungen von SJW-AutorInnen betrieben.
Erklärter Feind des SJW war die sogenannte «Schundliteratur»: Billige, am Kiosk erhältliche Hefte über Abenteurer und Krimihelden wie Frank Allen und Harry Piehl, versehen mit auffälligen Umschlägen. Diese waren Verfechtern der «guten» Kinderliteratur wie Fritz Brunner, Schriftsteller und Mitbegründer des SJW, ein Dorn im Auge und galten als qualitativ und moralisch verwerflicher «Schmutz», dem man qualitätvolle Literatur entgegensetzen wollte. Neben der Auswahl von Schriften namhafter und beliebter SchriftstellerInnen wie Olga Meyer, Traugott Vogel, Fritz Wartenweiler oder Johanna Spyri galt es, das Lesepublikum durch eine auffallende, aber geschmackvolle und künstlerisch anspruchsvolle Gestaltung zu gewinnen.
Heft Nr. 1
Das Titelbild als Kaufhilfe und Eingangstor zum Leseerlebnis gleichermassen spielte eine wichtige Rolle, wie es am ersten SJW-Heft Der Klub der Spürnasen von Fritz Aebli abzulesen ist: Gekonnt setzte der Grafiker Gregor Rabinovitch im Titelbild (Abb. 2) Elemente just aus der Gestaltung der verfemten Schundhefte (und auch von Filmplakaten) ein und wandelte sie für das Rätselheft ab: Der unheimliche Schatten hinter dem Jungen im Zentrum, der gleichsam ein Eigenleben entwickelt, die plakative Farbigkeit sowie die grelle Beleuchtung der Gesichter von schräg unten, die eine mysteriöse, unwirkliche Stimmung erzeugt. Während im Heftinneren eher harmlose Rätsel und Denkaufgaben zu finden sind, hat Rabinovitch gerade mit dem ersten Heft mutig die künstlerische Brücke vom Schundheft zum anerkannten Lese- und Beschäftigungsheft geschlagen.
In den nächsten Jahrzehnten buchstabierten die Illustrationen der SJW-Hefte die Bildsprache verschiedener politischer und künstlerischer Strömungen durch. Als Zeitdokumente illustrieren sie in Verbindung mit den ausgesuchten Texten den Zeitenwandel von der Geistigen Landesverteidigung über die Nachkriegszeit bis ins 21. Jahrhundert.
Künstlerische Entwicklungen und der Zeitgeist
Individuelle Werdegänge Schweizer KünstlerInnen lassen sich ebenso an ihren Illustrationen nachverfolgen wie die zeithistorischen Hintergründe. So hat der Basler Grafiker und Plakatkünstler Donald Brun zwischen 1945 und 1980 elf SJW-Hefte gestaltet. An dieser Zeitspanne lässt sich einerseits die Weiterentwicklung des Künstlers ablesen, anderseits aber auch die Veränderung des Zeitstils: Das Titelbild der Geschichte Pack den Rucksack von Otto Binder 1945 ist noch ganz der figürlich-realistischen Darstellungsweise der 1940er Jahre verhaftet: Ein Junge mit Wanderausrüstung schreitet fröhlich aus einer miniaturhaften, mit Hochhäusern, Baukränen und Fabrikschloten als Stadt markierten Gegend einer unverbauten, alpinen Landschaft entgegen, an deren Ende das schneebedeckte Matterhorn vom strahlenden Morgenrot der aufgehenden Sonne hinterfangen wird. Der Aufbruchsgeist der Nachkriegszeit wird hier in einer klaren, eingängigen Bildsprache gefasst. Hingegen erschliesst sich der Inhalt von Bruns Titelgestaltung von L’enfant des flots von 1978 nicht sofort: Eine grünlich-bläulich schimmernde Unterwasserszene, ein Mädchengesicht, das, umschwommen von kleinen bunten Meerestieren, gleichsam aus einer Koralle herauszuwachsen scheint, mutet schon beinahe psychedelisch an und ist klar ein ästhetisches Kind der 1970er. Als Collage aus Seidenpapier, Aquarellzeichnung und einer vermutlich als Abklatsch aufgebrachten Farbstruktur wird der geheimnisvolle Inhalt auch im Bild diffus und schleierhaft.
Für weitere Auflagen erfolgreicher Hefte wurden gerne neue Illustrationen in Auftrag gegeben, um den Kauf attraktiv zu machen – somit gibt es von manchen Themen ganz unterschiedliche künstlerische Interpretationen. Im SJW-Archiv werden auch verschiedene, verworfene oder abgeänderte Entwürfe einzelner KünstlerInnen bewahrt und somit ein Einblick in künstlerisch-verlegerische Entwicklungsprozesse der Hefte vermittelt.
Das SJW als Standbein und Sprungbrett für Illustratorinnen
Während manche Künstlerinnen wie Martha Pfannenschmid, Regina de Vries (Abb. 5) oder Helen Kasser über mehrere Jahre hinweg für das SJW illustrierten, blieben andere wie Lill Tschudi, Klara Fehrlin oder Johanna Fülscher bei einem einmaligen Gastspiel als Illustratorinnen. Aufträge wurden auch an eher unbekannte Zeichnerinnen wie Trudi Haas vergeben, die 1939 eine ganze Serie von Geschichten Johanna Spyris illustrierte. Sita Jucker hat über drei Jahrzehnte hinweg 26 Hefte gestaltet und gehört damit zu den aktivsten SJW-Illustratorinnen. Das SJW bildete für die einen ein dauerhaftes Standbein, für andere hingegen eine Zwischenstation auf ihrem künstlerischen Werdegang. Die später als Experimentalfilmerin bekannt gewordene Isa Hesse-Rabinovitch hat ebenfalls einige Hefte gestaltet. Während sie für ihre Gestaltungen der 1950er- und 1960er-Jahre Zeichentechniken wie Neocolor und Tusche eingesetzt hatte, verwendete sie für die Reisereportage Ceylon, die paradiesische Insel von 1970 ausschliesslich Fotografien (Abb. 6).
Vom Gestern ins Morgen
2022 wird das SJW-Heft 90 Jahre alt. Nach wie vor erscheinen die sorgfältig und ansprechend gestalteten Lesehefte. Illustrationen von Anete Melece, Kathrin Schärer oder das Illustratorinnen-Duo It's Raining Elephants tragen zum heutigen Erscheinungsbild der Hefte bei. 2007 fand im Lesesaal der ZB eine Ausstellung über Geschichte und Bedeutung des SJW statt und auch die Forschung hat sich bereits dem SJW und seinen Themen gewidmet.
Die seit 1932 verwendeten Originale für Umschläge und Innenillustrationen werden seit 1990 im SJW-Archiv in der Graphischen Sammlung der Zentralbibliothek Zürich bewahrt. Über 140 Schachteln enthalten die Entwürfe und Vorlagen sowie die gedruckten Hefte, seit einigen Jahren auch die digitalen Vorlagen. Eine Auswahl der Originalvorlagen wurde digitalisiert und bildet einen Querschnitt durch die Jahrzehnte, der in swisscovery abrufbar ist. Darüber hinaus ist eine Übersicht der Hefte von Nr. 1 bis 2300 mit Hinweisen auf die vorhandenen Originale in zbcollections verfügbar.
Links & Literatur
«Schweizerisches Jugendschriftenwerk (SJW)», in: Schweizerische Lehrerinnenzeitung, 1933. (S. 179-180)
«Kampf der Schundliteratur – 20 Jahre SJW», in: Schweizerische Lehrerinnenzeitung, 1951. (S. 216-218)
«25 Jahre Schweizerisches Jugendschriftenwerk», in: Schweizerische Lehrerinnenzeitung, 1956. (S. 84)
Fritz Brunner, 50 Jahre Schweizerisches Jugendschriftenwerk, Zürich: Schweizerisches Jugendschriftenwerk, 1981.
Charles Linsmayer, «Ein geistiges Rütli für die Schweizer Jugend.» 75 Jahre SJW Schweizerisches Jugendschriftenwerk / «Un Grutli spirituel pour la Jeunesse Suisse». 75 an OSL Oeuvre Suisse des Lectures pour la Jeunesse, Zürich: Schweizerisches Jugendschriftenwerk, 2007.
Fritz Franz Vogel, SJW-Heftli. Ein gutes Stück Schweizer Illustrationsgeschichte, Wädenswil: Verlag im Pfeil im Auge, 2008.
Pirmin Meier, «Eine unheroische Zeit: Der Erste Weltkrieg in Heften des Schweizer Jugendschriftenwerks (SJW)». In: Der vergessene Krieg. Spuren und Traditionen zur Schweiz im Ersten Weltkrieg, hrsg. von K. J. Kuhn und B. Ziegler, Baden: Hier + Jetzt, 2014.
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Kunsthistorikerin |
Die Inkunabelsammlung der Zentralbibliothek Zürich und ihre digitale Transformation
Die Erfindung des Buchdrucks um das Jahr 1450 stellt ein bedeutendes Ereignis in der Menschheitsgeschichte dar. Die Produkte der frühen Druckkunst heissen Inkunabeln. Eine internationale Kooperation von wissenschaftlichen Bibliotheken setzt modernste Technologie für die Zusammenführung dieser Bücher ein und hat mit «Material Evidence in Incunabula» (MEI) eine Datenbank geschaffen, die für den Umgang und das Hosting von Forschungsdaten Modellcharakter beanspruchen kann. Die Zentralbibliothek Zürich, die rund 1600 Inkunabeln besitzt, hat an diesem Projekt des Consortiums of European Research Libraries (CERL) aktiv mitgearbeitet. Dank MEI können die Ausbreitung, die Überlieferung und die Benutzung der Texte durch ihre Besitzer und in den jeweiligen Institutionen nachverfolgt sowie heute verstreute Sammlungen rekonstruiert werden.
Nicolaus de Lyra, Postilla super totam Bibliam, [Strassburg ca. 1477]. Beginn des zweiten Teils, Zierinitiale, Halbbordüre aus farbigem, von Tieren belebtem Akanthus, Süddeutschland Ende 15. Jh
Die Inkunabelsammlung der Zentralbibliothek Zürich
Die Inkunabelsammlung der Zentralbibliothek Zürich zeichnet sich durch lokale Überlieferung aus. Ein Teil stammt aus Zürcher Klöstern, die 1525 im Zug der Reformation aufgelöst wurden. Aus einigen Einrichtungen wie dem Barfüsserkloster sind nur wenige Bände in Zürich überliefert, etwa der Bibelkommentar von Nicolaus de Lyra, geschenkt vom Konstanzer Weihbischof Daniel Zehender. Anders verhält es sich mit dem Grossmünsterstift, das als einzige kirchliche Einrichtung die Reformation überlebt hat. Beinahe hundert Titel stammen aus der vorreformatorischen Stiftsbibliothek.
Odofredus, Lectura super Codice Iustiniani, Lyon 1480. Beginn des ersten Teils, historisierende Initiale mit Autorenporträt, Frankreich ca. 1480. Johannes Mantz erwarb das juristische Werk während seiner Studien in Frankreich, liess es später in Zürich binden und vermachte es 1518 testamentarisch dem Grossmünster.
Der Hebraist Konrad Pellikan (1478-1556) baute ab 1532 die Bibliothek neu auf. In die neue Stiftsbibliothek gelangten unter anderem die Bücher aus dem Vorbesitz des Reformators Huldrych Zwingli (1484-1531) und 87 Inkunabeln aus dem aufgelösten Augustiner-Chorherrenstift St. Martin. Insgesamt stammen nachweislich 382 Inkunabeln aus der reformierten Stiftsbibliothek am Grossmünster.
1) 2)
1) Lexicon graecum, Mailand 1499, Titelseite mit handschriftlichen Besitzvermerken von Huldrych Zwingli und des Grossmünsterstifts Zürich. Digitalisat online via e-rara.
2) Augustinus, Explanatio psalmorum, [Niederlande ca. 1486/87]. Textbeginn des dritten Teils, Zierinitiale mit auslaufender Akanthusranke, aus dem Kloster St. Martin.
Die 1629 gegründete Stadtbibliothek Zürich besass vor ihrer Auflösung 800 Inkunabeln.
Die 1629 gegründete Stadtbibliothek Zürich besass vor ihrer Auflösung 800 Inkunabeln. Die älteren Provenienzen sind dank Besitzvermerken in den Bänden und dank des handschriftlichen Donatorenbuchs oft gut dokumentiert. Zum Beispiel lässt sich die Herkunft einer 1477 in Augsburg gedruckten deutschen Bibel genau zurückverfolgen: der Druck muss noch im Erscheinungsjahr in Augsburg von einem namentlich bekannten Buchbinder gebunden und durch den in Zürich wohnhaften Chronisten Gerold Edlibach (154-1530) gekauft worden sein, anschliessend versah der Käufer die Bibel mit eigenen Illustrationen, bevor sie ein Nachfahre Edlibachs 1634 zusammen mit anderen Büchern der Stadtbibliothek schenkte.
Deutsche Bibel, Augsburg 1477. Genesis 19: Untergang Sodoms und Gomorrhas, aquarellierte Randfederzeichnung.
Bei anderen Inkunabeln ist die Herkunft dagegen weniger gewiss und das Eingangsdatum in die Stadtbibliothek nur mit einem terminus ante quem anzugeben wie bei Malermis italienischer Bibel, die 1471 in Venedig im Druck erschienen ist. Ein Mitglied der venezianischen Patrizierfamilie Priuli muss sie erworben und den künstlerisch hochstehenden Buchschmuck in Auftrag gegeben haben. Spätestens im Jahr 1760 befand sich die prächtige Bibel in die Stadtbibliothek Zürich.
Italienische Bibel, Venedig 1471. Textbeginn der Genesis und des Samuelbuchs, Malereien des Pico-Meisters.
312 weitere Inkunabeln der Zentralbibliothek Zürich, darunter sechs Unikate, stammen ursprünglich aus der 1862 säkularisierten Benediktinerabtei Rheinau. Über den Zuwachs des Rheinauer Bestandes im Lauf der Jahrhunderte ist indessen nur wenig bekannt. Immerhin wurden bei der Erwerbung mancher Bände das Exlibris des amtierenden Abtes in den Buchspiegel geklebt, oder es wurde mit einer Notiz auf den Büchertausch mit einer anderen kirchlichen Einrichtung hingewiesen.
Breviarium Benedictinum, [Nürnberg] 1493. Beginn des Psalters, historisierende Silbergrundinitiale (König David), mit Blumen besetzte Rankenwerkbordüre, und Beginn des Winterteils, Zierinitiale mit Rankenwerkbordüre, Süddeutschland um 1500. Digitalisat online via e-rara.
Aus dem Bestandskatalog wurde eine Datenbank
Mit der Eröffnung im Jahr 1917 vereinigte die Zentralbibliothek Zürich die Inkunabelsammlungen der Vorgängerinstitutionen. Bis zum Beginn des 21. Jahrhundert war es ziemlich umständlich, einen Eindruck dieses interessanten Buchbestandes zu bekommen oder eine spezifische Frage hierzu zu klären, weil eine genaue Recherche stets mit einem Besuch vor Ort verbunden war. Wesentlich einfacher wurde es, als vor 15 Jahren alle Inkunabeln in der eigenen Katalogdatenbank erschlossen wurden. Seither kann über das Internet nach Autoren, Titeln oder Provenienzen gesucht werden. Zudem steht dem Benutzer seit 2009 ein gedruckter Katalog mit exemplarspezifischen Beschreibungen zur Verfügung. 2019 wurde entschieden, die vorhandenen Daten in die Datenbank MEI zu exportieren. Die Vorteile von MEI sind zum einen eine höhere Sichtbarkeit des eigenen Inkunabelbestandes, zum anderen ermöglichen die strukturierten exemplarspezifischen Beschreibungen neue oder vertiefte Erkenntnisse zur Buchgeschichte. Zu diesem Zweck wurden die exportierten Daten sorgfältig nachbearbeitet, indem alle Einträge zeitlich und geographisch markiert, unklare Beschreibungen präzisiert und die Normeinträge korrigiert oder neu erstellt wurden. Nutzbringend ist auch die Verlinkung auf 251 Digitialisate und auf externe Quellen via e-rara und e-manuscripta. Ende 2021 konnte die Bearbeitung der ZB-Daten in MEI abgeschlossen werden. Aus einem Bestandskatalog wurde so eine Datenbank, die offen und mit anderen Daten vernetzt ist, was der Forschung neue Möglichkeiten bietet.
MEI, Öffnung und Vernetzung der Daten hinsichtlich der Inkunabelsammlung der Zentralbibliothek Zürich
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Stv. Leiter Abt. Alte Drucke und Rara |