Die Presse 1918: die Grippe in der Schweizer Armee

Von Juni bis August berichtete die Zürcher Presse zunächst über die Harmlosigkeit der «geheimnisvollen spanischen Krankheit», bevor die schweren Fälle von Influenza in den Vordergrund rückten. In den Leitartikeln dominierte die Kritik am Sanitätsdienst der Armee, der für die vielen erkrankten Soldaten verantwortlich gemacht wurde. In den Mannschaftsunterkünften fehlte es an allem. So gab es zu wenig Transportmittel, um erkrankte Soldaten zu verlegen, oder es fehlten Fiebermesser.

Von September bis März berichteten die Zeitungen über die Millionenverluste für die Schweizer Wirtschaft und die Krankenkassen. Gleichzeitig wurde ein Zusammenhang zwischen dem Landesstreik im November 1918, dem Militäreinsatz zur Aufrechterhaltung der Ordnung, mit dem der Bundesrat und die Armeeführung darauf antworteten, und der Grippepandemie hergestellt. Die politischen Lager schoben sich gegenseitig die Schuld an den Grippeopfern in der Armee zu. In der aufgeheizten Stimmung des Landesstreiks erregten vor allem die Grippetoten aus den Reihen der Soldaten Aufmerksamkeit, weniger diejenigen in der Zivilbevölkerung.

Die Medien 2018–2022: die Grippe in der Zivilbevölkerung

Links: «Zürichsee-Zeitung Bezirk Horgen» vom 18. August 2018; Mitte: «NZZ am Sonntag» vom 7. Januar 2018; <br>rechts: «Limmattaler Zeitung» vom 4. April 2020. (Bilder: ZB Zürich)

Die Spanische Grippe wurde anlässlich ihres 100. Jahrestages und der COVID-19-Pandemie wiederentdeckt. Einerseits hoben die Zürcher Medien die Auswirkungen der Spanischen Grippe auf die Zivilbevölkerung hervor: das Fehlen wirksamer medizinischer Hilfe, die Wundermittel gegen die Grippe, die Familientragödien. Andererseits verglichen sie die Sonderschichten des Pflegepersonals und die Massnahmen der Behörden von einst und jetzt. So zum Beispiel die Bemühungen, die Bevölkerung zum Abstandhalten zu bewegen, oder Desinfektionsmassnahmen wie das 1918 zweimal täglich vorgenommene Desinfizieren aller Zürcher Trams mit Formalin.

Und schliesslich fragten sich die Journalistinnen und Journalisten, warum die Spanische Grippe nicht im kollektiven Gedächtnis geblieben ist, obwohl ein Grossteil der Bevölkerung daran erkrankte. In der Geschichtsschreibung stand die Pandemie lange Zeit im Schatten des Ersten Weltkriegs und in der Schweiz insbesondere im Schatten der sozialpolitischen Auseinandersetzungen des Landesstreiks. Im Vergleich zu einem Krieg hat eine Pandemie keinen klaren Anfang und kein klares Ende, es gibt keine eindeutigen Helden, sondern nur Verlierer. Eine Pandemie deckt auch schonungslos und schmerzhaft Schwächen und Ungleichheiten einer Gesellschaft auf, was den Regierenden wenig Anreiz bietet, die Erinnerungen daran wachzuhalten. Zudem war die Pandemie von 1918/19 schwer einzuordnen: Sie tötete auf schreckliche Weise und viel mehr Menschen als jede andere Grippepandemie, und doch waren die Symptome vieler Erkrankter nicht schlimmer als bei der altbekannten saisonalen Grippe.

Die Zürcher Behörden: Schulschliessungen und Tanzverbot

Bei der Bekämpfung der Krankheit gab es ein Problem: Die Grippe war zwar als Krankheit bekannt, aber das Influenzavirus –  die Ursache der Grippe –  kannte man damals noch nicht. Zudem galt die Grippe bis 1918 nicht als gefährliche Krankheit. Erst während der Spanischen Grippe wurden Ärzte verpflichtet, Grippefälle zu melden. Am 25. Juli 1918 führte Zürich als einer der ersten Kantone die Meldepflicht ein.

Als die Zürcher Behörden den Ernst der Lage erkannten, reagierten sie mit weiteren, teils drastischen Massnahmen. Der Schulunterricht war sehr stark beeinträchtigt, fast ein Vierteljahr lang mussten die Stadtzürcher Schulen den Betrieb ganz oder zumindest teilweise einstellen. In der Gemeinde Wald war Genesenden, die kein Fieber mehr hatten, weitere acht Tage lang jeglicher Verkehr mit familienfremden Personen und insbesondere das Betreten von Gasthäusern und Verkaufslokalen untersagt. Die Gesundheitsbehörde der Stadt Winterthur verbot von Oktober bis Dezember Tanzveranstaltungen in geschlossenen Räumen und wies die Restaurants an, auf eine «lockere» Bestuhlung zu achten. Der Besuch von Gasthäusern wurde im Kanton Zürich nie ganz verboten, aber die Entscheidungsträger empfahlen, Innenräume möglichst zu meiden.

Die Gemeindechroniken: die Grippe «auf dem Lande»

Das kantonale Statistische Amt berichtete, dass Zürich und Winterthur im Grippejahr 1918 bei der relativen Sterblichkeit keineswegs an der Spitze lagen. Während im Bezirk Andelfingen pro 1000 Einwohner 23,97 und in Pfäffikon 20,51 starben, waren es in den Bezirken Winterthur und Zürich «nur» 18,84 bzw. 14,21. Die Spanische Grippe hinterliess also nicht nur in den dicht besiedelten Gebieten ihre Spuren.

Einblick in die Folgen der Grippepandemie in den ländlichen Gemeinden geben die Zürcher Gemeindechroniken. Es wird berichtet, wie «Töchter aus hiesigen Familien» erkrankte Soldaten pflegten, wie die Grippe in «unserer Gemeinde verhältnismässig milde» ausfiel oder wie die «Epidemie im Oktober heftig ausbrach». Einige Chronisten zählen auch die Verstorbenen auf. «Was ist nicht alles über ‹d'Gripp› im Verlaufe des zweiten Halbjahres 1918 geschrieben, gefaselt, geschwatzt und gewebert worden», schreibt der Chronist von Zollikon kritisch und unterstellt den Journalisten eine «kriegszeitliche Grippepsychose».

Die Spanische Grippe in der Literatur: Soldatenerzählungen

Schriftsteller verarbeiteten die Pandemie von 1918/1919 vor allem im Zusammenhang mit der Grenzbesetzung. Meinrad Inglin etwa schildert im «Schweizerspiegel» – einem Epos um eine Zürcher Familie – eindrücklich, wie die Spanische Grippe in der Armee zunächst als gewöhnliche und banale Grippe wahrgenommen wurde, wie dann allerlei Gerüchte über die Gefährlichkeit der Krankheit aufkamen und schliesslich ein Soldat nach dem anderen erkrankte. In ähnlicher Weise taucht die Spanische Grippe in der Ausgabe von 1938 des «Füsilier Wipf» von Robert Faesi auf.

James Joyce wiederum veröffentlichte die erste Fassung von «Hades», dem sechsten Kapitel seines Romans «Ulysses», im September 1918, als er in Zürich lebte. In diesem Kapitel reflektiert Leopold Bloom über den Tod, die Art des Sterbens und die Bestattung. Es erscheint unwahrscheinlich, dass Joyce dabei nicht seine Eindrücke der Grippepandemie einfliessen liess. Schliesslich verarbeitete auch Kurt Guggenheim die Spanische Grippe im Zürcher Epochenroman «Alles in Allem» literarisch.

«Nicht der Ansteckungsgefahr wegen seien die öffentlichen Leichengeleite verboten worden, sondern um den Leuten den Umfang des Sterbens zu verheimlichen. Nacht für Nacht und in Heimlichkeit, kaum dass sie erkaltet, würden die Leichen der Erde übergeben, mit Chlorkalk begossen. Alles sei abgesagt, die Feiern zum 1. August, die Gottesdienste selbst, und die Schulen geschlossen. Da helfe, wie seinerzeit bei der Cholera nur eines, der Schnaps, und wirklich konnten die Wartenden auch sehen, wie im Schatten der Platanen eine Flasche die Runde unter den Männern machte.»

Aus «Alles in allem» von Kurt Guggenheim, Seiten 493-494.

Gedenken an die Opfer des Krieges: Grippetote

Wehrmännerdenkmal Forch («Forchdenkmal»). Die 18 Meter hohe Bronzeskulptur in Form einer Flamme erinnert an die 365 Zürcher Soldaten, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind. (Bilder: ZB Zürich / Mediathek VBS, Militärpostkartensammlung der Bibliothek am Guisanplatz, Militärpostkarte Nummer 690)

Nach Kriegsende bildeten sich an verschiedenen Orten der Schweiz Denkmalkomitees, Vorbild waren Gefallenendenkmäler in anderen Ländern. Das Forchdenkmal geht auf eine Initiative der Unteroffiziersgesellschaft des Kantons Zürich zurück. Das Denkmalkomitee, aber auch die Zürcher Regierung wollten nicht nur der Soldaten gedenken, die von 1914 bis 1918 im aktiven Dienst an der Grenze gestorben waren. Alle militärischen «Kriegsopfer» bis 1919 sollten berücksichtigt werden – auch und gerade die Soldaten, die während des Landesstreiks im Landesinneren für Ruhe und Ordnung gesorgt hatten und dort an Grippe erkrankt und gestorben waren.

Diese Interpretation des Begriffs ‹Kriegsopfer› war unmittelbar nach dem Landesstreik innenpolitisch umstritten. Zudem liess sie alle zivilen Grippetoten unberücksichtigt. Schliesslich einigte man sich auf folgende Inschrift, die in den Steinsockel des Forchdenkmals eingemeisselt wurde: «DIES DENKMAL BAUTE DAS ZÜRCHER VOLK ALS SINNBILD SEINER OPFER, DIE DER WELTKRIEG 1914–1918 ZU DES VATERLANDES SCHUTZ FORDERTE.»

An der Einweihung von 1924 nahmen zwischen 30'000 und 50'000 Personen teil. Bundespräsident Robert Haab erinnerte in seiner Rede an die Grippetoten: «Wenn uns auch das Schlimmste erspart blieb, so ging doch im Herbst 1918 ein grosses Sterben durchs Land; die Grippe raffte unzählige Menschen dahin.»

Die Grippe-Forschung: das «grosse Schweigen»

Wöchentliche Todesfälle in der Stadt Zürich, 1917-1920. Die Grafik zeigt die bekannten Grippewellen 1 bis 3, wobei unklar ist, ob es sich bei der dritten Welle um eine eigenständige Welle handelt. Zudem ist eine starke Spätwelle 1920 zu erkennen. (Bild: Joël Floris, Oliver Grübner, Maryam Kordi-Kaiser, Wibke Weber, Kaspar Staub. LEAD - LEssons from the pAst: Digitized historical health data in Switzerland. leaddata.ch)

Lange Zeit galt die Spanische Grippe als «vergessene Pandemie», weil sie in den Geschichtsbüchern kaum Spuren hinterlassen hat. Zur Spanischen Grippe in Zürich gibt es beispielsweise bis heute keine umfassende geschichtswissenschaftliche Arbeit. Lediglich zwei unveröffentlichte Lizenziatsarbeiten liegen vor. Auf medizinischer Seite beschrieb der Arzt Emil Studer 1920 in seiner Dissertation alle 2867 Grippefälle des Jahres 1918 in der Medizinischen Klinik des Kantonsspitals Zürich. Nach ihm legten nur noch Hans Thalmann (1968) und Nina Maria Koren (2003) medizinische Dissertationen über die Grippe in Zürich vor.

Die neuere Forschung spricht von einer «Pandemielücke»: Nach 1918 traten keine grösseren Pandemien von durch Tröpfcheninfektion übertragenen Krankheiten mehr auf. Zusammen mit dem «grossen Schweigen» der Geschichtswissenschaft und den wenigen medizinischen Abhandlungen führte dies möglicherweise dazu, dass die Erinnerung an Pandemien verloren ging und die Gefahr einer neuen Pandemie unterschätzt wurde.

Historikerinnen und Historiker wiederum fragen sich, wie die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges die Wahrnehmung des Ersten Weltkrieges prägten. Hier wird von einem «vergessenen Krieg» gesprochen. Auf die Spanische Grippe fällt somit ein doppelter Schatten des Vergessens: Einerseits stand sie im Schatten der gesellschaftspolitischen Verwerfungen des Ersten Weltkrieges, andererseits trübten die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges den Blick auf den Ersten Weltkrieg. Entsprechend lautet die Forderung der neueren historischen Forschung, mit weiteren Untersuchungen zu zeigen, dass die Grippepandemie 1918/19 «mehr war als ein unerklärliches Anhängsel der politischen Geschichte der Schweiz zwischen Weltkriegsende und Landesstreik».

Literaturhinweise

Inzwischen kann in der Forschung nicht mehr von einer vergessenen Pandemie gesprochen werden, weder global noch für verschiedenen Regionen der Schweiz. Wer sich vertieft über die Geschichte der Spanischen Grippe in der Schweiz informieren möchte, dem seien als Einstieg in die verschiedenen Forschungsrichtungen folgende Bücher und Artikel empfohlen.

Auch in der Zürcher Bibliographie finden Sie Informationen zur Spanischen Grippe in Zürich.

Eine wichtige Quelle für diesen Beitrag waren statistische Jahrbücher aus der Spezialsammlung Turicensia der ZB Zürich. Die Open-Access-Publikationen finden Sie auf Zurich Open Platform (ZOP).


Dr. Joël Floris, Historiker, Willy-Bretscher-Fellow 2022/23
Juni 2023


Header-Bild: Historische und aktuelle Publikationen, in denen die Spanische Grippe thematisiert wird. (Bild: Stefanie Ehrler / ZB Zürich) 

 

Die Recherchen wurden ermöglicht durch das Willy-Bretscher-Fellowship 2022/23.