Zürich als Schicksalsort zweier Quantenpioniere

Walter Heitler (1904–1981) und Erwin Schrödinger (1887–1961). (Bilder: Carl Wolf / Universität Wien, Österreichische Zentralbibliothek für Physik, Erwin-Schrödinger-Archiv, F33-RB-43; Hochschularchiv der ETH Zürich)

Während sich Wentzel und Pauli ab 1928 für viele Jahre in Zürich niederlassen und den Forschungsplatz nachhaltig prägen, ist der Zürich-Aufenthalt von Schrödinger und Heitler in den 1920er-Jahren vergleichsweise kurz. Dennoch wird diese Zeit in Zürich für beide Männer zum wichtigsten Wendepunkt in ihrem Leben.

Schrödinger gelingt hier 1925 mit seiner Wellenmechanik ein epochaler Durchbruch, der ihn zu einem der bedeutendsten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts macht. Sein Stipendiat Heitler wendet Schrödingers Theorie kurz darauf erfolgreich auf ein anderes Fachgebiet an, womit er den Grundstein für die aufkommende Quantenchemie legt.

Das vorliegende Porträt wirft einen Blick auf diese zwei grundverschiedenen Persönlichkeiten, die das Leben später auf schicksalhafte Weise wieder zusammenbringt und deren Andenken heute untrennbar mit der Stadt Zürich verbunden ist.

Erwin Schrödinger

Herkunft

Erwin Schrödinger (1887−1961) wächst als Einzelkind in einer gut situierten Wiener Familie auf. Dank seiner britischen Grossmutter spricht er schon früh fliessend Englisch, was seine spätere Flucht vor den Nationalsozialisten nach England erleichtert.

Als Schüler zeigt er grosses Talent in den Fächern Mathematik und Physik. Auch liebt er Gedichte, antike und moderne Sprachen sowie das Theater. Schrödinger ist bereits als Junge eher kirchenfeindlich und kritisch gegenüber der Bibel, bewahrt aber lebenslang ein tiefes Interesse an religiösen, philosophischen und spirituellen Fragen.

Durch die kriegsbedingte Hyperinflation verarmen Schrödingers Eltern. Diese Verlusterfahrung prägt seinen Umgang mit Geld und lässt ihn später stets nach lukrativeren Stellen Ausschau halten.

Erwin Schrödinger mit seiner Mutter Georgine Emilia Brenda. (Bild: Ludwig Grillich / Universität Wien, Österreichische Zentralbibliothek für Physik, Erwin-Schrödinger-Archiv / Signatur F226-107)

Walter Heitler

Herkunft

Walter Heitler (1904−1981) wird in Karlsruhe geboren. Sein böhmischer Vater ist Ingenieur und entstammt einer armen jüdischen Familie.

Zum Ärger seiner älteren Schwester Annerose richtet Walter als Kind im Badezimmer ein Chemielabor ein, ohne die chemischen Reaktionen ausreichend zu überwachen. In der Schule liest er unter dem Tisch Bücher zur Relativitätstheorie und erregt so den Unmut seines konservativ eingestellten Physiklehrers. Griechisch und Latein dominieren den Lehrplan, wodurch Heitler früh mit Platons Philosophie in Kontakt kommt, die ihn sein Leben lang begleitet.

Walter Heitler mit seiner Schwester Annerose. (Bild: Hochschularchiv der ETH Zürich)

Studium

Schrödinger studiert an der Universität Wien Physik und Mathematik. Der Titel seiner Dissertation lautet «Über die Leitung der Elektrizität auf der Oberfläche von Isolatoren an feuchter Luft».

Schrödingers geliebter Lehrer Fritz Hasenöhrl, die Hoffnung der österreichischen theoretischen Physik, wird 1915 von einem Granatsplitter tödlich am Kopf getroffen. Schrödinger dient ebenfalls im Krieg, der seine akademische Laufbahn für vier Jahre unterbricht und ihm körperlich und seelisch viel abverlangt.

Das Physikinstitut der Universität Wien. (Bild: Bernd Gross / Wikimedia Commons)

Studium

Heitlers älterer Bruder Hans studiert Elektrotechnik, seine Schwester wird Doktorin der Wirtschaftswissenschaft. Walter Heitler selbst findet nur schwer zu einer beruflichen Entscheidung und bleibt lang zwischen der Mathematik und der Chemie hin- und hergerissen. Dass die theoretische Physik überhaupt als Studienfach existiert, realisiert er erst durch einen persönlichen Hinweis.

Er studiert Chemie an der Technischen Hochschule Karlsruhe (heute Karlsruher Institut für Technologie) und Physik in Berlin und München, wo er 1926 zu einem Problem der physikalischen Chemie promoviert.

Heitler ist ein Schüler des Physikers Arnold Sommerfeld, der grossen Wert auf eigenständiges Denken und Kreativität legt. Unter seiner Anleitung gewinnen mindestens sechs Wissenschaftler den Nobelpreis.

Das Karlsruher Institut für Technologie (Bild: © Thomas Riedel)

Forschung

Schrödinger ist hauptsächlich für seine Beiträge zur Quantenmechanik bekannt, er forscht aber auch zur Farbtheorie. Wie Heitler lehrt und publiziert er ausserdem gerne zu kulturhistorischen Themen, wie etwa der Philosophiegeschichte des antiken Griechenlands.

Schrödingers Werk «Was ist Leben?» (1944) ist ein Wissenschaftsklassiker. Schrödinger vermutet darin, dass Gene mit einer Art Code die Entwicklung der Zellen steuern. Obwohl inhaltlich nicht immer korrekt, beeinflusst der Text den Lebensweg einer ganzen Generation von Forschenden, welche später die Wissenschaft der Molekulargenetik erschaffen und die DNA-Struktur entdecken.

Menschliche Chromosomen. Sie transportieren die DNA in kompakter Form. (Bild: Wessex Reg. Genetics Centre / Artstor, Wellcome Collection / CC BY 4.0)

Forschung

Neben der unten genauer vorgestellten Heitler-London-Theorie entwickelt Heitler mit Hans Bethe die «Bethe-Heitler-Formel». Sie beschreibt, wie schnelle geladene Teilchen Energie verlieren, wenn sie durch Materie fliegen. Zusammen mit Homi J. Bhabha erschafft Heitler die Kaskadentheorie, welche die Entwicklung elektromagnetischer Schauer in der Atmosphäre erklärt.

Heitlers berühmtes Buch «The Quantum Theory of Radiation» wendet die Quantenmechanik für die Beschreibung von Strahlungsprozessen an. Es erfreut sich bei Forschenden weltweit sofort grosser Beliebtheit und gilt als klassisches Referenzwerk.

Obwohl Heitler die anspruchsvollsten mathematischen Methoden und Berechnungen beherrscht − und dies auch von seinen Angestellten verlangt −, verwendete er sie in seinem Unterricht kaum. Vielmehr ist es ihm als Dozent wichtig, seinen Studierenden physikalische Zusammenhänge verständlich zu vermitteln.

Zeichnung von Walter Heitler mit Reaktionen von Atomkernen. (Bild: Hochschularchiv der ETH Zürich)

Ehrungen

Gletscher, Asteroiden, Mondkrater, öffentliche Plätze, Strassen, Gebäude und mehrere Wissenschaftspreise sind nach Schrödinger benannt. Neben dem Nobelpreis erhält er auch die Max-Planck-Medaille. Er ist Mitglied der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften, der britischen Royal Society, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Accademia Nazionale delle Scienze.

Der Schrödinger-Mondkrater. (Bild: NASA / Wikimedia Commons)

Ehrungen

Heitler erhält die goldene Medaille der Humboldt-Gesellschaft, Ehrendoktorate der National University of Ireland sowie der Universitäten Göttingen und Uppsala, die Max-Planck-Medaille der Deutschen Physikalischen Gesellschaft und den Schweizer Wissenschaftspreis Marcel Benoist. Er ist Mitglied der Royal Irish Academy, der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina sowie der britischen Royal Society.

Heitler wird auch für den Nobelpreis vorgeschlagen, erhält ihn zur Verwunderung mancher Zeitgenossen aber nie. Er darf jedoch die Lindauer Nobelpreisträger-Tagungen besuchen.

Max-Planck-Medaille. (Bild: © Deutsche Physikalische Gesellschaft)

Persönliches

Schrödinger führt mit seiner Frau eine offene, kinderlose Ehe und hat mehrere Töchter mit anderen Partnerinnen. Seine Vorliebe für viel jüngere Frauen ist Gegenstand anhaltender Kontroversen.

Er pflegt einen aktiven Lebensstil und trifft sich gerne mit Kollegen und Freunden. Zu seinen Hobbys zählen das Schreiben von Gedichten und das Teppichknüpfen.

Was die Arbeit betrifft, ist Schrödinger ein Einzelkämpfer. Er ist deutlich älter als die anderen Quantenmechaniker, hat einen exzentrischen Kleidungsstil und zeigt keinerlei Interesse daran, ähnlich denkende Schülerinnen und Schüler auszubilden. Für seine Zeit nominiert Schrödinger ungewöhnlich viele Frauen für den Nobelpreis.

Schrödinger in Belgien, um 1939. (Bild: provided by Brenner Forum together with Brenner-Archiv)

Persönliches

Seine Mitarbeitenden beschreiben Heitler als warm, hilfsbereit, verständnisvoll, humorvoll und gütig, insbesondere gegenüber jüngeren Angestellten und Studierenden. Im Kontakt mit Fremden sei er zurückhaltend, mitunter fast abweisend.

Anders als Schrödinger, der grundsätzlich allein forscht, verfasst Heitler sämtliche seiner Schlüsselarbeiten in Kooperation mit anderen Physikern.

Privat pflegen er und seine Frau engen Austausch mit Zürichs Künstlerkreisen. Wie Schrödinger mag Heitler Berge und ist begeisterter Wanderer und Skifahrer. Diese Leidenschaft beeinflusst sogar die Wahl seiner Wohn- und Arbeitsorte. Seine Reisen führen ihn unter anderem nach Japan, Indien (Gastprofessur), Russland und an die Colombia University in New York.

Trotz seines langjährigen Wirkens in der Schweiz erwirbt er das Schweizer Bürgerrecht nie. Gegen Ende seines Lebens konvertiert Heitler zum Christentum.

Formelles Porträt Heitlers. (Bild: Walter Stoneman / © National Portrait Gallery, London)

Tod

Mit 73 Jahren stirbt Schrödinger 1961 in Wien an Tuberkulose, an der er vermutlich bereits litt, als er 1921 nach Zürich zog. Die offiziellen Dokumente vermerken als Todesursache eine Arterienverkalkung. Seinem Wunsch entsprechend wird er in seinen geliebten Bergen, genauer in Alpbach, Tirol, beigesetzt. Seine Frau erhält Kondolenzbekundungen von Heitler, Karl Popper, Bruno Kreisky und vielen wichtigen Physikerinnen und Physikern wie Paul Dirac, Werner Heisenberg, Max Born und Lise Meitner.

Schrödingers Grab mit der Schrödingergleichung.  (Bild: © Wolfgang Morscher, www.SAGEN.at)

Tod

Heitlers Glaube gibt ihm Kraft und Trost im Umgang mit der Krankheit, die seine letzten Jahre prägt. Er stirbt mit 77 Jahren im November 1981. Seine Frau überlebt ihn um fast 20 Jahre. Heitler liegt auf dem Friedhof Witikon begraben.

Porträt Heitlers im Alter. (Bild: Hochschularchiv der ETH Zürich)

Schrödinger an der Universität Zürich

Schrödinger reist 1921 nach Zürich, um an der Universität den seit sieben Jahren verwaisten Lehrstuhl für theoretische Physik zu besetzen. Mit 34 hat er damals noch keine bedeutende wissenschaftliche Arbeit verfasst. Auch während der nächsten Jahre deutet nichts darauf hin, dass Schrödinger 1926 in der Physik einen Paradigmenwechsel einleiten und der Universität Weltruhm bescheren wird. 

Die Stadt bietet ihm Stabilität inmitten der turbulenten Nachkriegszeit, lang ersehnte finanzielle Sicherheit und die Chance, in die Fussstapfen renommierter Vorgänger wie Einstein zu treten. Scheint die Sonne, hält Schrödinger seine Vorlesungen in Badehosen an den Ufern des Zürichsees, stets mit einer improvisierten Tafel im Gepäck. Obwohl er an Tuberkulose leidet und häufig krank und erschöpft ist, mögen die Studierenden seinen Unterrichtsstil. Während damals noch viele Dozierenden ihre Skripte ablesen, spricht und rechnet Schrödinger frei. Auch organisiert er gesellige Zusammenkünfte, die für ihre ausgelassene Atmosphäre bekannt sind.

«Ein Züricher Lokalaberglauben»: Schrödingers Wellenmechanik


«Woher kam Schrödingers Gleichung? Nirgendwoher. Es ist nicht möglich, sie aus irgendwas Bekanntem herzuleiten. Sie kam aus dem Geist Schrödingers.»

Nobelpreisträger Richard Feynman

1924 präsentiert der französische Adlige Louis de Broglie der etwas ratlosen Pariser Fakultät für Naturwissenschaften eine mutige, aber unbewiesene These: Alle Materie hat Welleneigenschaften. Schrödinger, sofort fasziniert, macht sich daran, eine umfassende Theorie daraus zu entwickeln. Der Durchbruch gelingt ihm 1925 während seines weihnachtlichen Skiurlaubs in Arosa. Schrödinger schickt seine Abhandlung «Quantisierung als Eigenwertproblem» im Januar an die Redaktion der «Annalen der Physik». Der Text enthält seine berühmte Wellengleichung, später auch Schrödingergleichung genannt.

Die Gleichung ist das mathematische Herzstück der Wellenmechanik, die Schrödinger in nur wenigen Monaten entwickelt. Die Wellenmechanik ermöglicht die genaue Berechnung der Energiezustände von Elektronen in Atomen und kann so ihr Verhalten vorhersagen.

Schrödingers Antwort auf Wolfgang Paulis spitze Bemerkung, seine Wellenmechanik sei blosser Lokalaberglauben, bleibt im Dunkeln der Geschichte. Der Kommentar kritisiert jedoch nicht Schrödingers Berechnungen, sondern nur Schrödingers Deutung seiner eigenen Theorie.

Die Heitler-London-Theorie

Der 23-jährige Heitler ist begeistert von Schrödingers Publikation («Alle waren das», so Heitler selbst) und reist dank eines Stipendiums Anfang 1927 zu ihm nach Zürich. Er erhofft sich von Schrödinger Forschungsideen und professionelle Betreuung, erhält aber nur Einladungen zu feuchtfröhlichen Wochenendtrips ins Grüne und gemeinsamen Skiurlauben. Viel wichtiger wird in Zürich die Zusammenarbeit mit seinem Mitstipendiaten Fritz London, mit dem er sich sofort versteht.

Heitler macht der Föhn in Zürich zu schaffen. Während eines besonders ausgeprägten Föhnsturms kann er sich stundenlang nicht konzentrieren, verschläft den Nachmittag und schreckt dann plötzlich auf, ein Bild von Wasserstoffmolekülen, Wellenfunktionen und dem Elektronenaustausch vor Augen. Er ruft London an, der sofort vorbeikommt. In einem Kreativitätsrausch arbeiten sie bis spät in die Nacht. Am nächsten Tag ist ihre Heitler-London-Theorie weitgehend fertig. Sie ist die erste erfolgreiche quantenmechanische Erklärung einer chemischen Bindung. Ihr Artikel erscheint bald darauf in der «Zeitschrift für Physik». 

Abschied von Zürich und Wiedersehen

Schrödingers Wellenmechanik und die Heitler-London-Theorie lösen durch ihre mathematische Eleganz, Erklärungskraft und breite Anwendungsmöglichkeiten in der physikalischen Fachwelt sofort Begeisterung aus.

Wohl zur Enttäuschung vieler Studierender reist Schrödinger bald für mehrere Monate durch die USA und hält dort 50 Vorträge. Danach verlässt er Zürich als gefeierter Star Richtung Berlin, zusammen mit dem zum Assistenten beförderten London. Heitler wird Max Borns Assistent und später Professor in Göttingen, dem führenden Zentrum der Quantenphysik. 

Als Jude wird Heitler bereits 1933 entlassen und flieht nach England. Schrödinger stufen die Nationalsozialisten als «politisch unzuverlässig» und «judenfreundlich» ein, weswegen er 1939 nach Dublin auswandert. Zwei Jahre später – mittlerweile ist er Direktor des Dubliner Institute for Advanced Studies – holt er Heitler zu sich. Während des Krieges verliebt sich dieser zum ersten Mal, heiratet eine Biologin und wird Schrödingers Nachfolger, doch die weiten Wälder seiner Heimat, die Alpen und die deutschsprachige Kultur fehlen ihm. 


Schrödingers Wertschätzung Heitlers wird in einem Brief an Max Born deutlich:

«Da Heitler nun schon einige Zeit hier ist, fühle ich mich verpflichtet, Ihnen besonders dafür zu danken, dass Sie ihn so nachdrücklich empfohlen haben. Er ist in jeder Hinsicht eine äußerst wertvolle Bereicherung. Wissenschaftlich steht er seinem ‹Milchbruder› London (ich meine diese Bruderschaft in Bezug auf ihre erste große Leistung) mindestens ebenbürtig gegenüber, als Mensch und als Lehrer ist er ihm jedoch unvergleichlich überlegen. Tatsächlich hat er eine wunderbare Gabe, die Schwierigkeiten und Einwände einer anderen Person zu verstehen.»

Brief vom 5.Oktober 1941, ins Deutsche übersetzt


Heitlers «geisteswissenschaftliche Wende»: Philosophie, Religion und Quantenphysik


«Nach dem Hitlerkrieg hatten die Vereinigten Staaten ein überaus grosses, auch moralisch grosses, Prestige. In wenigen Minuten war es vernichtet. […]
Was wurde aus der Physik – meiner Wissenschaft - was wurde aus den Physikern!
»

Zitat aus Heitlers Memoiren

Obwohl mittlerweile irischer Staatsbürger, kehrt Heitler nach Kriegsende in die Stadt Zürich zurück und verbleibt dort bis zu seinem Tod. Zwar leitet er 25 Jahre lang das Institut für theoretische Physik der Universität, publiziert und hält Vorlesungen, doch wird die Physik für ihn mehr und mehr zu einer Wissenschaft des Todes. Er trifft japanische Strahlungsopfer und zeigt sich verstört von der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Vereinnahmung der Physik. Die Vorstellung einer rein materialistischen, unbeseelten Welt, in der das Göttliche keinen Platz hat, bleibt für ihn unvollständig und fremd.

Mit Vehemenz setzt er sich öffentlich für seine Überzeugungen ein, etwa an Podiumsgesprächen im Stadthaus oder in Zeitungsinterviews. Auch Publikationen zeigen sein Engagement, zum Beispiel «Naturwissenschaft ist Geisteswissenschaft», «Naturphilosophische Streifzüge», «Die Natur und das Göttliche» und «Wahrheit und Richtigkeit in den exakten Naturwissenschaften». Sein erfolgreichstes Buch zu diesem Thema ist «Der Mensch und die naturwissenschaftliche Erkenntnis».

Vermächtnis: Schrödinger, Heitler und Zürich heute

Für das Gedankenexperiment «Schrödingers Katze» wird eine Katze in eine Kammer mit einer tödlichen Vorrichtung gesteckt. Erst wenn die Kammer wieder geöffnet wird, kann man feststellen, ob die Falle die Katze getötet hat. Solange sie geschlossen bleibt, gilt die Katze somit gleichzeitig als tot und lebendig. (Bild: Ruth Bründler / Universität Zürich; Yiwen Chu / ETH Zürich)

Ironischerweise hat nicht Schrödingers Gleichung, sondern nur seine Katze den Weg in die Popkultur gefunden. Ihre Präsenz in Literatur, Film, Musik und Internet-Memes verdeutlicht, wie eng Wissenschaft und Kultur miteinander verschmelzen können. Heute gilt sie als Sinnbild für Mehrdeutigkeit und Ungewissheit in Alltagssituationen.

Mit dem Katzen-Gedankenexperiment kritisiert Schrödinger eine bestimmte Deutung der Quantenmechanik, welcher er lebenslang feindlich gegenübersteht. Sie besagt unter anderem, dass sich quantenmechanische Teilchen gleichzeitig in mehreren möglichen Zuständen befinden, solange sie nicht beobachtet werden. Schrödinger will zeigen, wie absurd dieses Prinzip wirkt, wenn man es direkt auf Alltagsobjekte anwendet.

Zürich pflegt heute ein unkompliziertes Verhältnis zu Schrödinger. Stadtführungen besuchen seine Wohn- und Arbeitsorte. Sein Haus an der Huttenstrasse 9 ist eine kleine Touristenattraktion. Zu Heitler gibt es keine vergleichbaren Angebote.


Irina Morell, Historikerin und Mitarbeiterin der Universitätsbibliothek Zürich, Naturwissenschaften
Juni 2025

Das Physik-Institut der Universität Zürich zeigt ab Ende Juni 2025 die Ausstellung «Quantum Century – Zürich und die Geburtsstunde der Quantenmechanik» in der Universitätsbibliothek Naturwissenschaften.

 

Header-Bild: Schrödinger mit Pauli, Heisenberg, Einstein, Max Born und Louis de Broglie an der Solvay-Konferenz von 1927. (Colorized by Sanna Dullaway, photograph by Benjamin Couprie, Institut International de Physique Solvay, courtesy AIP Emilio Segrè Visual Archives)

 

Dank & Nachweise

Die Autorin bedankt sich bei Herrn Axel Rasche für die großzügige Bereitstellung von Informationen und freundliche Unterstützung im Zusammenhang mit dem Nachlass von Walter Heitler.

Falls nicht anders vermerkt, stammen sämtliche Zitate aus der Quellenedition «Eine Entdeckung von ganz außerordentlicher Tragweite: Schrödingers Briefwechsel zur Wellenmechanik und zum Katzenparadoxon» sowie aus Walter Heitlers unveröffentlichten Lebenserinnerungen.