Abb. 1: Selbstporträt, gez. Gretchen Goetz, April 1923, Goe 523Wer kennt heute die Bilderbücher von Margarete Goetz (Abb. 1), wie Klein-Edelweiss im Schweizerland? Um 1900 war es in der Schweiz so erfolgreich, dass es zusätzlich zur deutschen auch eine französische und eine englische Ausgabe erhielt. Zu Lebzeiten war Goetz geschätzt und bekannt, ihre gezeichneten Kinderporträts waren begehrt, doch heute sind ihre Werke vergessen. Ein Blick in ihren Nachlass von hunderten Werken in der Zentralbibliothek Zürich lässt jedoch das Schaffen einer talentierten Zeichnerin und Illustratorin entdecken.

Die schweizerische Illustratorin und Zeichnerin wurde am 30. November 1869 als einziges Kind von Laura Wirth aus Winterthur und dem deutschen Komponisten Hermann Goetz geboren. Ihr Vater, aus Königsberg stammend und seit 1863 Organist der Stadtkirche Winterthur, hat zu seiner Zeit als Komponist vor allem durch seine Oper Der Widerspenstigen Zähmung (Uraufführung 1874) Bekanntheit erlangt. Sein Nachlass liegt ebenfalls in der ZB und gibt einen kleinen Einblick in das Verhältnis der beiden.

Der verlorene Vater

Zwar sind nur wenige Briefe und Kärtchen zwischen Vater und Tochter erhalten, sie deuten jedoch auf ein liebevolles Verhältnis hin. So gratulierte Hermann Goetz am 30. November 1875 schriftlich seinem «Gretchen» zum Geburtstag. schon dort wird der schlechte gesundheitliche Zustand des Komponisten deutlich. Als Hermann Goetz im Dezember 1876, kurz vor seinem 36. Geburtstag, an Tuberkulose starb, war Margarete Goetz acht Jahre alt. Nach seinem Tod lebten Tochter und Witwe in materiell und gesundheitlich schwierigen Verhältnissen, der Verkauf seiner Musikmanuskripte trug zum Lebenserhalt bei. Später förderte Margarete Goetz die Forschung über ihren Vater, zum Beispiel als ein Musikwissenschaftler seine Dissertation über diesen verfasste (Eduard Kreuzhage, Hermann Goetz. Sein Leben und seine Werke, Leipzig 1916). Schliesslich schenkte sie seinen verbliebenen Nachlass der Zentralbibliothek, darunter eine Abschrift eines väterlichen Briefes, die sie noch 1946 zu seinem Andenken angefertigt hatte.

Akademische Ausbildung und erste Erfolge

Auch unter den schwierigen Lebensbedingungen nach dem Ableben des Vaters wurde Margarete Goetz nach Möglichkeit in der Entfaltung ihres künstlerischen Talents gefördert. Ersten Zeichenunterricht erhielt sie bei Jakob Heinrich Reinhart und am Technikum Winterthur. Von 1896 bis 1902 studierte sie – angeblich auf Empfehlung des deutschen Malers Hans Thoma für ein Kunststudium – in München. 1902 wurde ihr Sohn Enzo Ertini (1902-1976) geboren, der später Schauspieler wurde und mit der Schauspielerin Hanni Ertini-Brack (1908-1982) verheiratet war. Als Mutter eines unehelichen Kindes, zu dem sie sich erst viele Jahre später offiziell bekannte, mit dem sie aber immer zusammenlebte, erfuhr sie gewiss weiterhin materielle Einschränkungen und musste als Illustratorin und Künstlerin den Lebensunterhalt für die Familie verdienen.

Abb. 2: Robert Breitinger, Illustrationen von Margarete Goetz, Fotografie, 1896, Breitinger, Cabinet V, Varia 3339/131/1896

Bekanntheit als Kinderbuchillustratorin erlangte Goetz schon früh: 1892 erschien ihr Bilderbuch Klein-Edelweiss im Schweizerland, das in einer französischen und englischen Ausgabe erschien und zahlreiche Auflagen erlebte. Die Reise des niedlichen Edelweiss-Blumenkindes, das von alpinen Höhen ins Tal herabsteigt und nach einigen Abenteuern wieder in seine gewohnte Umgebung zurückkehrt, war ein grosser Erfolg für die junge Künstlerin. Der Zürcher Fotograf Robert Breitinger fotografierte 1895 mehrere Illustrationen des Buches für Hofer & Burger als eine repräsentative Bildauswahl dieser Graphischen Anstalt (Abb. 2). Goetz’ Bücher waren in dieser Zeit so erfolgreich, dass sie sich als Bildmaterial zu Werbezwecken des Verlags eigneten.

Von Waisenkindern und Sonnenengelein

Während die Geschichte von Klein-Edelweiss eine nicht ganz ungefährliche, im Grossen und Ganzen aber doch recht idyllische Bergwelt vorführt, schildert die Künstlerin in Arm und verwaist! von 1894 das erbarmungswürdige Schicksal eines Findelkindes im winterlichen Gebirge, doch auch in dieser Geschichte geht durch die Barmherzigkeit eines anderen Kindes alles gut aus. Sehr reduziert in der Erzählung, erscheint die Bildabfolge als charakteristisches Element, die gleich einem Storyboard einige Szenen rasant vor Augen führt. Bemerkenswert auch die Widmung am Anfang des Buches: «Der Erlös ist für arme Kinder bestimmt». Auch in der Gestaltung eines Bilderbuchs mit lieblichen und drolligen Figuren, die auf einem schmalen Grat des Kitsches wandeln, blendete Goetz die harsche Realität damaliger Kinder nicht aus.

Ob Arm und verwaist und den 1906 erschienenen (und dem «Andenken meines teuren Vaters» gewidmeten) Sonnenengelein ebenfalls ein solcher Erfolg wie Klein-Edelweiss beschieden war, lässt sich nicht belegen. Die intensive Bewerbung von Sonnenengelein in Lehrerzeitungen legt nahe, dass jedenfalls versucht wurde, an die früheren Erfolge anzuknüpfen. Wie bereits angedeutet, scheint Goetz sich in dieser Zeit aber schon vor allem mit Auftragsarbeiten als Illustratorin und bald auch der kommerziellen Auswertung von Bildmotiven ihrer Bücher befasst zu haben.

Illustrationen für Maggi und die Abstinenz

Abb. 3: Margarete Goetz, Studien von Kleinkindern, um 1900, Goe 497

Im Nachlass finden sich neben gezeichneten Grusskarten und Vorlagen für Illustrationen auch zahlreiche Körperstudien von Kindern, die das ausgeprägte anatomische Interesse der Zeichnerin an natürlichen Proportionen und Bewegungen verdeutlichen (Abb. 3). Im Besitz der Künstlerin befanden sich bei ihrem Tod vor allem Porträtzeichnungen der eigenen Enkelkinder, es ist aber davon auszugehen, dass sie seit den 1910er-Jahren viele Aufträge für Kinderporträts in Winterthur und Umgebung erhielt.

Abb. 4: Margarete Goetz, Das Zürcher Hilfskomitee für notleidende Auslandskinder seinen treuen Mitarbeitern 1919-1921, Goe 12

Goetz illustrierte auch Werke anderer Autorinnen wie Hedwig Bleuler-Waser, Gründerin des Schweizerischen Bunds abstinenter Frauen (Von Pflanzen, Tieren und Menschen. Ein Büchlein für Kinder vom 8. bis 12. Altersjahr, 1910), später für die Mundartdichterin Emilie Locher-Werling (Diheim im Stübli. Ein Buch für die Kinderwelt, 1923) oder Käte Joël (Hochzeits-Gratulanten. Gedichte und Aufführungen, 1923).  Wie schon in Arm und verwaist widmete Goetz sich auch in anderen Arbeiten der Illustration von Schriften für wohltätige Zwecke, darunter Aufklärungsbroschüren für Abstinente und Kinderhilfswerke (Abb. 4). Für den Suppenpulverhersteller Maggi gestaltete sie die undatierte Broschüre: Je suis un petit livre.

Margarete Goetz pflegte freundschaftliche Kontakte zu bedeutenden Persönlichkeiten des Kulturlebens. Vor allem mit Elisabeth Wölfflin, der Schwester des Schweizer Kunsthistorikers Heinrich Wölfflin, stand sie in regem Kontakt und über diese mit der Schriftstellerin und Historikerin Ricarda Huch. Illustrierte Grusskarten und Briefe dokumentieren ihre Verbindung zur Familie des Geologie-Professors an der ETH, Albert Heim, vor allem zu dessen Tochter Helene Heim. Für seine Frau Marie Heim-Vögtlin, die erste Schweizer Ärztin, gestaltete sie zum 25-Jahr-Jubiläum der Doktorwürde am 11. Juli 1899 ein Album, das seit 1990 im Gosteli-Archiv aufbewahrt wird.

Poesievolle Postkarten

Nicht wenige Motive aus persönlichen Bildgrüssen und den Bilderbüchern finden sich auch in gedruckten Karten wieder (Abb. 5-7). Einen Hinweis dazu findet sich versteckt in einer Broschüre: Zu Margarete Goetz’ 75. Geburtstag fand im Frühjahr 1945 ihre bislang einzige bekannte Einzelausstellung im Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen statt. Im vier Seiten umfassenden Katalog, von dem heute ein Exemplar in der Stadtbibliothek am Münsterplatz in Schaffhausen zu finden ist, werden unter anderem ihre «bekannten poesievollen Postkarten» für den Verlag Ida Henke erwähnt. Dieser war wohl einer von vielen Postkartenverlagen in dieser Zeit, als das Zeichnen von Postkartenmotiven eine verlässliche Einnahmequelle darstellte. Goetz’ Bilder zeigen von Empathie getragene, mit sicherem Strich gezeichnete Porträts von Erwachsenen, Kindern und Säuglingen. Ihre Modelle waren oft ihr Sohn, später die Enkelkinder, beim Spielen oder Malen. Anatomische Studien und Fotografien dienten ihr ebenfalls als Hilfsmittel in der Konzeption von Kinderbildnissen und Illustrationen. Tiere und Pflanzen gehörten gleichermassen zum Motivschatz. Blumen zeichnete sie sorgfältig beobachtet «nach Natur» oder ornamenthaft stilisiert, je nach Zweck. Dass vor allem liebliche, verniedlichende Kinderdarstellungen in Postkartenform überliefert sind, mag auch der Orientierung am Publikumsgeschmack geschuldet sein.

Eine schweizerische Alice im Wunderland?

Abb. 8: Margarete Goetz, Illustration zu «Der Ofen in Lappland», ohne Datum, Goe 546_3

In den 1940er-Jahren schuf sie in Zusammenarbeit mit ihrer Schwiegertochter, der Schauspielerin Hanni Ertini, Aquarellzeichnungen für deren Geschichten, die im Gegensatz zu den frühen, lieblich-naiven Bilderbüchern in einer humorvollen bis fantastisch-skurrilen Bildsprache gestaltet sind. Darunter finden sich Titel wie «Der Ofen in Lappland», «Das Pusteteufelchen» oder «Heubuutz und Sichelbock». Die Texte wurden jedoch nicht publiziert und sind nur als Handschriften und Typoskripte überliefert. Für die abenteuerliche Reise eines kleinen Ofens von den Eisbären bis zum Osterhasen studierte Goetz anhand von Postkarten die Darstellung von Bären und übertrug sie in eine vermenschlichte Form (Abb. 8). Einer schweizerischen «Alice im Wunderland» ähnlich liess sie ein kleines Mädchen im Traumland Absurdes und auch Beängstigendes erleben (Abb. 9). In diesen Bildern zeigt sich eine ganz andere Seite der Illustratorin, die auch für kuriose Inhalte die passende Bildsprache fand.

Abb. 9: Margarete Goetz, Illustration aus «Heubuutz und Sichelbock», ohne Datum, Goe 310_2

Nach Natur und Alten Meistern

Von zahlreichen Kindern, darunter auch ihrem Sohn und später den Enkelkindern, zeichnete sie einfühlsame Porträtstudien, für die sie weithin bekannt und geschätzt war. Von ihrer hohen Produktivität zeugen im Nachlass viele Darstellungen von Kindern und Säuglingen in Pastell, Aquarell und Kreide, die auch die technische Finesse ihrer Zeichenkunst aufzeigen. Blumen-, Pflanzen- und Tierbilder, denen eine fundierte Pflanzenkenntnis und sorgfältiges Naturstudium zugrunde liegen, bildeten ein weiteres Tätigkeitsfeld der Künstlerin. Kopien nach Porträts von Peter Paul Rubens oder der Blauracke von Albrecht Dürer (Abb. 10) belegen schliesslich ihr Interesse für die Alten Meister und deren zeichnerische Gestaltung von Farbe, Textur und Licht.

Abb. 10: Margarete Goetz, Kopie nach Albrecht Dürers Blauracke, ohne Datum, Goe 537

Margarete Goetz lebte vor allem in Winterthur und Zürich. Von 1927 bis 1939 war Goetz Mitglied der Künstlergruppe Winterthur. 1924 und 1930 war sie an Gruppenausstellungen des Kunstvereins Winterthur beteiligt. Zwischen 1934 und 1945 wohnt sie in Schaffhausen und danach im Pfrundhaus St. Leonhard in Zürich, wo sie am 28. September 1952 verstarb. Zu ihrem 151. Geburtstag, der ins gleiche Jahr fällt wie Hermann Goetz’ 180. Geburtstagsjubiläum, sei an diese talentierte Zeichnerin und Illustratorin aus vergangener Zeit erinnert.


Anna Lehninger, Kunsthistorikerin