Der Dichter...

Conrad Ferdinand Meyer in seinem Arbeitszimmer in Kilchberg, wo er von 1877 bis zu seinem Tod lebte. (Bild: ZB Zürich)

«Seine zwiespältige Psyche war sein Weltreich»

Bruno Weber, 1975

Die Zeitgenossen und die Literaturwissenschaft sind sich einig: Der am 11. Oktober 1825 in Zürich geborene Dichter und Novellenschreiber Conrad Ferdinand Meyer war kein einfacher Charakter. Selbstherrlich und «aristokratisch» auf der einen Seite, ein Spätzünder, Zweifler und Melancholiker auf der anderen. Ein Träumer, Italien-Fan und Geschichts-Nerd. Ein Frankophiler, der unbedingt zur reichsdeutschen Kultur gehören wollte.

Meyers literarischer Durchbruch gelang ihm nach einer schwierigen Jugend und ersten Gedichten erst im Alter von 47 Jahren mit dem Epos «Huttens letzte Tage». Sein Schaffen war durchzogen von Arbeitsfieber, nervösen Zusammenbrüchen und Krankheit. 1891 erschien sein letztes Werk, «Angela Borgia». Ab Juli 1892 verbrachte er über ein Jahr in der Heilanstalt Königsfelden. Sein Bestseller «Jürg Jenatsch» ging damals in die 19. Auflage. Am 28. November 1898 starb Meyer – acht Jahre nach dem anderen grossen Zürcher Dichter, Gottfried Keller. Sein «Jürg Jenatsch» hatte unterdessen die 30. Auflage erreicht.

… und sein Nachlass in der ZB

Bereits 1923 deponierte Camilla Meyer (1879-1936), Conrad Ferdinand Meyers einzige Tochter, seinen schriftstellerischen Nachlass in der Zentralbibliothek Zürich und stellte ihn für eine geplante Edition zur Verfügung. Nach ihrem Tod ging er in das Eigentum der ZB über. Camilla Meyer vermachte neben Werkmanuskripten und beruflichen Akten auch persönliche und Familiendokumente, Briefe, Fotografien, Gemälde sowie das Mobiliar und die Bibliothek in Meyers letztem Arbeitszimmer in Kilchberg. Die ZB selbst besass bereits – und erwirbt bis heute  – und erwirbt bis heute – Autografen des Dichters.

Die zahlreichen Archivalien geben Hinweise auf Meyers Schreibprozess, aber auch auf sein Selbstbild, seine Befindlichkeiten und auf die Rolle anderer Menschen in seinem Leben. Ob biografisch, literaturwissenschaftlich, sozialgeschichtlich oder psychologisch – das Dichterarchiv in der ZB kann immer wieder neu befragt werden.

Blick in die Schreibstube

«Wie Conrad Ferdinand Meyer mit dem Mute eines eigenartigen Talentes seine Wege geht, ohne sich an die Geschmacksrichtung des Tages zu kehren, nur dem Schönen, Sittlichen und Wahren ergeben, so, meine ich, wird auch das, was er geschaffen, seine Tage überleben.»

Anton Reitler, 1885

Vom ersten Entwurf bis zum druckfertigen Text war es oft ein langer, ja jahrzehntelanger Weg, denn Conrad Ferdinand Meyer strebte nach Perfektion. Alle Entwicklungsstufen dieses Schreibprozesses lassen sich in den nachgelassenen Dokumenten erkennen: die Geburt einer Idee, die flüchtige Notiz und die Handschrift der Schwester oder des Sekretärs, denen er seine Sätze diktierte.

Danach das Ringen um die passende Form und den «grossen Stil», das Feilen am Wort und am Rhythmus. Endlich die Mitteilung, in einem Brief an Johann Rudolf Rahn: «Ich bin fertig, ganz fertig, bis auf die letzte Revision u. in jener wunderlichen Stimmung, wo man selbst noch nicht recht weiss, was man eigentlich gemacht hat.»

Folgen Sie uns in die Schreibstube des Dichters!

Zehn Lesetipps

Conrad Ferdinand Meyers Œuvre ist schnell zusammengefasst: zehn historische Novellen, ein historischer Roman, einige Gedichtbände, zwei Versdichtungen und nachgelassene Prosafragmente, die nach seinem Tod zum Teil veröffentlicht wurden. Kein leichtes Unterfangen ist es jedoch, seine Geschichten und seine Lyrik auf den Punkt zu bringen.

Es geht um die grossen, allgemeinmenschlichen Themen: Liebe, Hass und Verrat. Moral, Schuld und Vergebung. Aber wie können wogende und stolpernde, farbige und spannungsvolle, schmerzliche und nachdenkliche, auch mehrdeutige und symbolhafte Dichterworte beschrieben werden? Wir versuchen es gar nicht erst und laden Sie mit unseren zehn Lesetipps dazu ein, Meyer aus dem Bücherregal zu holen und seinen Worten wieder zuzuhören.

Wir verlinken jeweils auf unsere digitalen Plattformen. Sie finden die Werke natürlich auch in unserem Bücherbestand.

Die Füsse im Feuer (1864/82)

Seine erste Lyrik schrieb Meyer im Gymnasium. 1860 hatte er 100 Gedichte beisammen und war entschlossen, den Dichterberuf zu ergreifen. 1864 erschienen – anonym – «Zwanzig Balladen von einem Schweizer» in Stuttgart.

Als Charakteristika seiner frühen Gedichte nannte Meyer seine «aus innern Jugendkämpfen hervorgewachsene, Einsamkeit liebende Resignation» und seinen vom Vater geerbten, «in langen und soliden geschichtlichen Studien erstarkten Gerechtigkeitssinn».

Er erweiterte seine Sammlung von 192 Gedichten (1882) auf zuletzt 231 (1892). Aus

«Der Hugenot» entwickelte er seine bekannte Reformations-Ballade «Die Füsse im Feuer». Meyer kaut und speit hier seine Wörter und skizziert mit Sprache eine bedrohliche Spannung, Angst und Gewissensqual:

«Fest riegelt er die Tür.
Er prüft Pistol und Schwert.
Gell pfeift der Sturm.
Die Diele bebt.
Die Decke stöhnt. 
Die Treppe kracht …
Dröhnt hier ein Tritt? ...
Schleicht dort ein Schritt? …»

Stöbern Sie in «Zwanzig Balladen» weiter in Meyers bildhafter und gedankenschwerer Frühlyrik.Aus der Nachrichtensammlung des Zürcher Chorherrn Wick: Verbrennung zweier reformiert gesinnter Frauen in den Niederlanden, Einblattdruck von 1545. (Bild: ZB Zürich, PAS II 1 / 2)

Huttens letzte Tage (1871/82)

Der Verlag Brockhaus in Leipzig wies ab, was dann dank Hermann Haessel ein Erfolg wurde: «Huttens letzte Tage». Obwohl Meyer vor 1871 bereits zwei Gedichtbände publiziert hatte, nannte er seine Versdichtung über den deutschen Humanisten Ulrich von Hutten, der auf der Zürichsee-Insel Ufenau sein letztes Asyl findet und sein ganzes Leben geisterhaft an sich vorüberziehen sieht, seinen Erstling.

Das Werk entstand unter Meyers Eindruck seiner eigenen melancholischen Lebensstimmung, der «heimatlichen, mir seelenverwandten Landschaft», die er als Wanderer, Ruderer und Schwimmer erlebte, und den gewaltigen Zeitereignissen, namentlich der Gründung des deutschen Kaiserreichs. «Huttens letzte Tage» erreichte zu Meyers Lebzeiten elf Auflagen und brachte ihm den Namen «Huttenmeyer» ein.

Sein zweites Versepos, «Engelberg», erschien in einer ersten Fassung 1872.

Laut Betsy Meyer «gezeichnet von Prof. Rudolf Rahn während der ersten Vorlesung des Hutten bei ihm in Engstringen», Juni 1871. (Bild: ZB Zürich, Ms. CFM 369.4)

Das Amulet (1873)

Die Familienzeitung «Daheim» in Leipzig lehnte den stückweisen Abdruck der kleinen Erzählung «Das Amulet» ab. Meyers erste, schliesslich bei Haessel erschienene Novelle über die Bartholomäusnacht vom 24. August 1572 geizt nicht mit Verwicklungen und blutigen Details und nimmt, so Karl Fehr, den Stil geraffter Filmsequenzen vorweg.

Der namenlose fiktive Herausgeber übersetzt die Aufzeichnungen des protestantischen Soldaten Hans Schadau, der unter dem Admiral und Hugenottenführer Gaspard de Coligny diente. Darin steht ein katholischer Fetisch im Mittelpunkt, der ironischerweise den Ungläubigen rettet. Als «love interest» tritt die blauäugige, blonde Gasparde auf.

Das abenteuerlich zuschlagende Schicksal stellt auch die Leser und Leserinnen auf die Probe. Die Literaturwissenschaft erkannte Personen, Orte und Konstellationen aus Meyers Welschland-Aufenthalt in den 1850ern und verwies auf den Kulturkampf in der Schweiz.

Zwei Segel (1875/82)

Im Sommer 1875 sandte Meyer das Liebesgedicht «Ein doppeltes Leben, zwei Segel» an seine Braut, Louise Ziegler. Angelegt hatte er es fünf Jahre früher unter dem Titel «Abendbild». In der Gedichtsammlung von 1882 erschien eine nochmals überarbeitete Fassung. Einmal mehr liess er seine Wortschöpfung mit der Erfahrung reifen.

Zwei Segel erhellend
Die tiefblaue Bucht!

Zwei Segel sich schwellend
Zu ruhiger Flucht!
 

Wie eins in den Winden
Sich wölbt und bewegt,

Wird auch das Empfinden
Des andern erregt.

Begehrt eins zu hasten,
Das andre geht schnell,

Verlangt eins zu rasten,
Ruht auch sein Gesell.

Nehmen Sie sich den Rat von Anna von Doss zu Herzen und lesen Sie Meyers Gedichte laut, um «die Musik des Wortes neben der Hoheit des Gedankens, der Tiefe des Gefühls» zu hören.

Der Schweizer Komponist Paul Burkhard, der mit «O mein Papa» (1939) berühmt wurde, vertonte Meyers Gedichte «Zwei Segel» und das «Schnitterlied» für Mezzosopran.

Paul Burkhard: Zwei Segel (C. F. Meyer), für Mezzosopran. (Bild: © Mus NL 147, mit freundlicher Genehmigung)

Jürg Jenatsch (1874/76)

In den 1860er-Jahren beschloss Meyer, Oberst Jenatsch, den Retter Graubündens, zu literarisieren, wobei er zwischen Schauspiel und Novelle schwankte. 1874 stellte er seine «Geschichte aus der Zeit des Dreissigjährigen Krieges», so der Untertitel, in der Wochenzeitschrift «Die Literatur» vor. Der Titelheld des Romans hiess bis zur dritten Buch-Auflage (1882) Georg Jenatsch.

Meyer studierte gewissenhaft historische Quellen, Chroniken und die Örtlichkeiten, verfuhr dann aber völlig frei mit dem Stoff. In einem nicht gedruckten Vorwort ermahnte er sein Publikum, die historische Fiktion nicht für bare Münze zu nehmen.

 Eine rätoromanische Übersetzung in der Zeitschrift «Il progress» floppte 1880/81 und wurde nach 59 Fortsetzungen abgebrochen – «zu langweilig», befand die Leserschaft. 1929 erschien eine expressionistische Vertonung von Heinrich Kaminski. Martin Suter schrieb das Drehbuch zum Film «Jenatsch» (1987).

Lucretia erschlägt Jürg Jenatsch. Darstellung von E. Sturtevant nach Meyers Novelle, 19. Jahrhundert. (Bild: Rätisches Museum)


Der Schuss von der Kanzel (1878)

Für das Zürcher Taschenbuch 1878 schrieb Meyer die humorvolle Novelle «Der Schuss von der Kanzel», sein erstes Werk nach seiner Heirat und vielleicht deshalb so leichtfüssig. Die Verwicklungsgeschichte um den Zürcher General Hans Rudolf Werdmüller, der auf der Halbinsel Au «wie eine Art Rübezahl» sein Unwesen treibt, so Meyer in einem Brief, handelt von Leidenschaft und gesellschaftlichen Schranken, Fortschritt und Aberglaube.

Natürlich wurde Meyers «Schuss» mit Gottfried Kellers Novelle «Der Landvogt von Greifensee» von 1879 verglichen. Sein draufgängerischer Werdmüller wirke neben Kellers herrlichem und tüchtigem Salomon Landolt ungünstig barock, befand Meyer in einem Brief an Julius Rodenberg selbst.

 Dem Publikum gefiel die Humoreske und auch sechs Jahrzehnte später die Mundartverfilmung von Leopold Lindtberg (1942). Es gibt sogar ein berndeutsches Lustspiel in drei Aufzügen von Adolf Schaer-Ris (1958).

General Hans Rudolf Werdmüller, gezeichnet von Heinrich Bodmer, lithographiert von J. Lier, ca. 185o. (Bild: ZB Zürich)

Plautus im Nonnenkloster (1881/82)

Was sucht Plautus im Kloster? Die Frage ist falsch gestellt. Vielmehr sucht der florentinische Kardinal Poggio Bracciolini (1380−1459), Teilnehmer des Konzils von Konstanz, im Frauenkonvent von Münsterlingen nach einem Manuskript des römischen Klassikers Plautus. Zu den Requisiten zählen auch zwei fast identische Holzkreuze, die als Reliquien verehrt werden.

Daraus fabuliert Meyer eine vergnügliche Satire um einen unglücklich verliebten Maultiertreiber, eine listige und vulgäre Äbtissin, eine von Gewissenszweifeln geplagte Novizin und besagten schlitzohrigen Bracciolini, der zugleich der Ich-Erzähler ist. Da eine Frau im Mittelpunkt steht, nannte er die Renaissance-Novelle ursprünglich «Das Brigittchen von Trogen».

Weltentsagung und Scheinheiligkeit hinter Klostermauern provozierten den reformierten Dichter, der oft parallel an Werken herumdachte. 1880 veröffentlichte er «Der Heilige» um Thomas Becket, 1884 «Die Hochzeit des Mönchs». Unvollendet blieb «Die sanfte Klosteraufhebung» (1882–1891).

Cover der norwegischen Ausgabe «Plautus i nunneklostret» von 1956. (Bild: ZB Zürich, CFM 111ac)

Gustav Adolfs Page (1882/83)

Aus dem «Pagen Leubelfing» im Vorabdruck von 1882 wurde 1883 «Gustav Adolfs Page». Wir merken: Das Geschick des Protagonisten Leubelfing ist nur verständlich aus seiner Abhängigkeit von seinem Herrn, dem schwedischen König – und umgekehrt.

Schicksalhaft ist das Leben der beiden mit Gustav Adolfs Feinden Wallenstein und von Lauenburg verbunden. Es kommt zum unausweichlichen Showdown auf dem Schlachtfeld bei Lützen, was wir auch in einem Geschichtsbuch aus Meyers Bibliothek nachlesen können. Doch gab er dem historischen Ereignis seine eigene Interpretation und einen überraschenden Dreh – womit er sich Ärger mit den Nachfahren des echten Pagen Leubelfing einhandelte.

Meyer inspirierte Theodor Walther 1924 zu einer Tragödie in 5 Aufzügen. 1960 wurde die Novelle mit Liselotte Pulver und Curt Jürgens für das Kinopublikum adaptiert.

Vorabdruck in der «Deutschen Rundschau» mit Korrekturen von unbekannter Hand. (Bild: ZB Zürich, Ms. CFM 189.4)

Die Richterin (1885)

Er hoffe, dass es sein bestes Werk werde, sagte Meyer 1885 zu Anna von Doss, als er ihr den Plot seiner tragischen Novelle «Die Richterin» zusammenfasste.

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen zwei rätische Frauen: die fünfzehnjährige Palma, die von Graciosus umworben wird und ihren Halbbruder Wulfrin vergöttert, und ihre Mutter Stemma, die stolze Richterin und Ärztin von Malmort, die, so munkelt man, ihren Mann ermordet haben soll.

Um diesen Verdacht dreht sich die lebhaft und poetisch erzählte Novelle, die es in sich hat: Zwangsheirat, Giftmord, familiäre Entfremdung, Verliebtheit, Gefangenschaft, ominöse Traumbilder, düstere Geheimnisse ... Unter der Oberfläche von Zucht und Tugend brodeln Leidenschaft und Schuld – wie der unterirdische Strom, der am Burghügel von Malmort nagt.

Das Motiv der Geschwisterliebe behagte nicht allen. Auch Sigmund Freud schaute näher hin.

Radierung von Alois Kolb in einer illustrierten Ausgabe der «Richterin» von 1923. (Bild: ZB Zürich)

Angela Borgia (1891)

Nach vierjähriger Produktionspause veröffentlichte Meyer 1891 – unterstützt von seiner Schwester Betsy Meyer – «Angela Borgia», eine Novelle, die in Ferrara und in der Renaissance spielt. Die Titelfigur ist eine tugendhafte, geradezu traumverlorene Frau, die im Zentrum eines politischen und persönlichen Intrigenspiels steht. Als Kontrast steht ihr die dämonische, manipulative Lucrezia gegenüber, eine Frau mit skandalöser Vergangenheit und ohne Gewissen.

Der österreichische Schriftsteller Rudolf Greinz lobte 1895 Meyers Virtuosität. Er sei nicht nur Dichter, sondern auch Psychologe und könne uns menschliche Charaktere viel näher bringen als der kühl und nüchtern registrierende Historiker. Laut dem Verleger Haessel waren die frommen Frauen in Meyers Umfeld über die Geschichte der Femme fatale Lucrezia entsetzt.

«Angela Borgia» blieb Meyers letzte Veröffentlichung, obwohl er gleichzeitig am Drama «Petrus Vinea» um Friedrich II. und an der Novelle «Der Dynast von Toggenburg» arbeitete.

Anselm Feuerbach: Bildnis einer Römerin in weisser Tunika und rotem Mantel (Lucrezia Borgia), ca. 1862–1866. (Bild: Städel Museum, Frankfurt am Main)

Meyer über Meyer

Melchior Paul von Deschwanden: Conrad Meyer im Juni 1842, Bleistiftzeichnung. Das Gedicht «Mit einem Jugendbildnis» bezieht sich auf dieses Jugendporträt. (Bild: ZB Zürich)

Wie beurteilte Conrad Ferdinand Meyer sich selbst als Dichter und Mensch? Wir lassen ihn selbst zu Wort kommen. 

«Hier – doch keinem darfst du’s zeigen,
Solche Sanftmut war mir eigen,
Durfte sie nicht lang behalten,
Sie verschwand in harten Falten,
Sichtbar ist sie nur geblieben
Dir und denen, die mich lieben.»

Aus dem Gedicht «Mit einem Jugendbildnis», 1883


«Es ist schon gut, dass die Anderen mit meinen Sachen zufrieden sind, wo ich selbst es nicht sein kann.» 

Meyer an Hermann Haessel, 19.10.1865


«Was da steht, ich hab es tief empfunden
Und es bleibt ein Stück von meinem Leben.»

Meyer im Vorwort zur zweiten Auflage der «Gedichte», 1883


«Ja, es ist wahr. Das habe ich geschrieben. Es ist wahr, ganz wahr. Aber das ist schon sehr lange her.
Ein Wirbelsturm ist vorbeigefahren, Jahrhunderte sind vorbeigesaust.» 

Meyer 1892 zur fünften Auflage seiner «Gedichte»


«Mein Lebenslauf ist im Grunde unglaublich merkwürdig. Wie werden sie einst daran herumrätseln!
– Nur du könntest ihn erzählen und du tust es nicht.» 

Die angesprochene Betsy Meyer tat es mit ihren «Erinnerungen».

Zehn Frauen

Meyers Geschichten kreisen um Wahrheit und Vollkommenheit. Er versetzt seine Hauptfiguren in historische Kontexte und lässt sie dort politische Unruhen, Intrigen und moralische oder religiöse Dilemmata erleben. Wesentlich in diesen Läuterungskämpfen sind komplexe Frauenfiguren, sei es als Verführerin, Opfer oder moralische Instanz. Einerseits innerlich stark, andererseits – wir befinden uns im patriarchalischen 19. Jahrhundert – oft ohne viel Handlungsmacht.

Nach seiner Verlobung mit Louise Ziegler prophezeite Meyer in einem Brief: «Ich bin gewiss, dass dadurch auch meine bescheidene literarische Tätigkeit an Kraft u. Consequenz gewinnen wird.» Zehn Jahre später fand er, seine Frauengestalten seien dank seiner Ehefrau besser und markiger geworden.

Wir stellen zehn reale Frauen vor, deren Züge und Schicksale die Literaturwissenschaft und die Psychologie ebenso interessieren wie Meyers fiktive Figuren.

Elisabeth Meyer-Ulrich – die Mutter

Als Conrad Ferdinand Meyer 15 Jahre alt war, starb sein Vater, der Historiker und Regierungsrat Ferdinand Meyer. Seine Mutter, Elisabeth Meyer geb. Ulrich (1802–1856), wird von den Biografen als streng religiös beschrieben, geistvoll, «als ob sie aus dem Zeitalter Schillers und Goethes zurückgeblieben sei», so Adolf Frey, jedoch überfordert als alleinerziehende Witwe.

Ihre Briefe an ihre beiden Kinder verraten melancholische und herrische Züge. 1856 wählte sie den Freitod. «Ich schaudere vor mir selbst – Ach, Allbarmherziger, erbarme dich meiner auch an dem dunkeln Orte, wohin ich mich jetzt stürze», schrieb sie in ihrem Abschiedsbrief.

Während die meisten Biografen des 20. Jahrhunderts Meyer zu einem schicksalshaft an der Welt leidenden Helden erklärten, gaben sie seiner Mutter alle Schuld an seinen lebensbedrohenden Krisen. 1998 zeichneten eine Sozialpädagogin und eine Politikwissenschafterin das Bild einer hochbegabten, wohltätigen und empfindsamen Frau und Mutter in einer patriarchalischen Gesellschaft.

Johann Conrad Zeller zeichnete die fromme Elisabeth Meyer in Nonnentracht. Kreide auf Papier, ca. 1852. (Bild: ZB Zürich)

Betsy Meyer – die Schwester

Die sechs Jahre jüngere, ledige Betsy Meyer (1831–1912) war jahrelang die engste Vertraute, Haushälterin, Sekretärin und Mitarbeiterin ihres Bruders, den sie, wie es Bruno Weber formulierte, «zeitlebens bewunderte, anspornte, aufrüttelte, umsorgte, kritisierte, anhörte, zu begreifen suchte».

Sie studierte Malerei und war ebenfalls sprachgewandt. Hilfsbedürftige Menschen lagen ihr besonders am Herzen. 1858 reiste sie mit Meyer nach Rom und Florenz, 1863 vermittelte sie ihm für seine frühen Balladen einen Verlagsvertrag in Stuttgart. Dass sie mit ihm und für ihn schrieb, belegen Briefe und ihre Handschrift auf unzähligen Entwürfen und Abschriften.

Mit der Heirat ihres Bruders endete diese «Wurzeleinheit», nicht aber Betsy Meyers Anteilnahme an seinem Schaffen, ihre Verlagskorrespondenz und ihr Einsatz für seinen Nachruhm. Als 72-Jährige veröffentlichte sie ihre eigenwilligen «Erinnerungen» an den Bruder.

Betsy Meyer, um 1870. Fotoatelier Jean Gut & Cie. (Bild: ZB Zürich)

Cécile Borrel – die Therapeutin

Die Neuenburgerin Cécile Borrel (1815–1894) war eine von fünf namentlich bekannten Frauen, in die sich Meyer – unglücklich – verliebte. Er lernte sie kennen, als er 1852 wegen depressiver Verstimmungen in der Nervenklinik Préfargier behandelt wurde.

Meyer hatte sein Jurastudium abgebrochen, war verkracht mit seiner Mutter, berufslos, introvertiert. Borrel erwies sich als verständnisvolle, erfolgreiche Therapeutin, wie ihre Berichte nach Zürich belegen. Und so stabilisierte sich der Patient nicht nur und fand ein Berufsziel (Französisch studieren und unterrichten), sondern verliebte sich auch in den «Engel».

Die Liebesbriefe, die er ihr aus Lausanne schickte, wurden 1913 ediert. Nicht verschriftlicht ist das Gespräch vom Juli 1853, in dem seine Mutter der «unerfahrenen» Cécile Borrel – erfolgreich – den Abbruch der Beziehung nahelegte.

Lena F. Dahme, die sich eingehend mit Meyers realen und fiktiven Frauen auseinandersetzte, verglich die Novizin Angela in der Verserzählung «Engelberg» mit Borrel.

Psychiatrische Klinik von Préfargier, wo Meyer 1852 Cécile Borrel kennen lernte und 1856 seine Mutter verlor. Lithographie von Charles-Claude Bachelier, 1849. (Bild: ZB Zürich)

Constance von Rodt – die Traumbraut

Laut einem Brief an seine besorgte Mutter war es dem 27-jährigen Meyer nur halbernst, als er Herrn van der Mülen in Lausanne aufforderte: «Geben Sie mir die kleine Patrizierin!» Er meinte damit die 14-jährige Bernerin Constance von Rodt (1839–1858) und reagierte einerseits auf das Loblied, das der Herr auf seine Enkelin sang, anderseits auf die Westschweizer Freunde, die in verkuppeln wollten.

Im September 1853 traf er «die Kleine», die vermutlich nichts von ihrer Erwählung ahnte, zum ersten Mal. Ihr bescheidenes, gutmütiges Wesen scheint ihm gefallen zu haben, aber in Briefen an seine Angehörigen und an Cécile Borrel kehrte er nach dem Treffen den Hagestolz heraus.

Constance von Rodt erkrankte und starb bereits im Alter von 19 Jahren. Sie ist, wie Meyer selbst enthüllte, die keusche junge Tote, die er 1870 in den «Romanzen und Bildern» besang und später im «Weihgeschenk». Genervt über die Mutmassungen des Publikums, bat er seinen Verleger laut einem Brief an Julius Rodenberg, diese beiden Gedichte bei der Neuausgabe wegzulassen.

Neue Fassung des Gedichts «Weihgeschenk» in der Handschrift von Meyers Sekretär Fritz Meyer, August 1883. (Bild: ZB Zürich, Ms. CFM 172.2)

Clelia Weydmann – die Frühverstorbene

Nicht nur in Gottfried Kellers, auch in Meyers Leben gab es eine frühverstorbene «Jugendliebe»: Clelia Weydmann (1837–1866). Die Tochter eines St. Galler Kaufmanns war laut ihren Angehörigen intelligent, liebenswürdig und tiefsinnig, aber keineswegs – wie es Adolf Frey kolportierte – melancholisch.

Meyer verliebte sich in Clelia Weydmann, als er sie 1858 in Zürich kennenlernte. Er war kein idealer Heiratskandidat, da ohne Beruf und klare Zukunft, was er nach «Höllenqualen», wie er seiner Schwester schrieb, schliesslich einsah. Es war ein Wendepunkt: Er entschloss sich, sein künstlerisches Ich endlich zu entwickeln.

O-Töne von Clelia Weydmann zu Meyers Werben haben sich nicht erhalten. Sie starb bereits mit dreissig Jahren an den Folgen einer Operation. Mehrere Gedichte werden in der Literaturwissenschaft auf sie bezogen, darunter «Der Waldweg», «Stapfen», «Wetterleuchten», «Lethe», «Einer Toten».

Carl Spitzweg: Liebespaar im Walde, 1860. (Bild: © Hessen Kassel Heritage, Neue Galerie – Sammlung der Moderne, Foto: Arno Hensmanns)

Anna von Doss – die Verehrerin

Die charismatische Anna von Doss geb. Wepfer (1834–1913) aus München lernte Meyer 1871 an einer illustren Pfingstgesellschaft von François und Eliza Wille auf dem Landgut Mariafeld in Meilen kennen. Die Begegnung war kein Zufall: Wille hatte ihr aus dem noch unveröffentlichten «Hutten» vorgelesen, worauf sie Meyer als Tischnachbarn wünschte. Auf einem Spaziergang schwelgten die beiden in ihrer Begeisterung für den «deutschen Gedanken» und das «deutsche Gefühl», für Lyrik und Paul Heyse.

Bei ihren späteren Besuchen in Kilchberg merkte sich die unterdessen Verwitwete jede Kleinigkeit, jeden Dialog. Alles, was Meyer schrieb, entzückte sie. Er lobte ihre Lebhaftigkeit der Empfindung und fühlte sich ihr gegenüber «nahe und durchaus wahlverwandt» – auch weil sie keine junge Frau mehr sei. Einen kritischen Austausch finden wir in ihren Briefen nicht.

Die lebendigen Meyer-Erinnerungen der Anna von Doss wurden 1963 zum Teil veröffentlicht. Ihre Zusammenfassung der «Angela Borgia» ist besonders köstlich. Laut Lena F. Dahme ähnelt ihr Viktoria Colonna in «Die Versuchung des Pescara».

Das Anwesen der Familie Wille in Mariafeld in einer Fotografie von 1905. Hier lernten sich 1871 Meyer und Anna von Doss kennen. (Bild: © Alexis Schwarzenbach / ZB Zürich)

Louise Meyer-Ziegler – die Ehefrau

1875 heiratete der 50-jährige Dichter die zwölf Jahre jüngere Louise Ziegler (1837–1915). Die Tochter eines eidgenössischen Obersten malte leidenschaftlich gern Landschaften und brachte viel Geld mit.

Über ihren Einfluss auf Meyer scheiden sich die Geister. «Meine Frau mit ihren militärisch einfachen Gewöhnungen und ihrem sehr natürlichen Wesen ist mir durchaus wohltuend», meinte Meyer 1884 laut Alfred Zäch. Anna von Doss war enttäuscht, als sich die Dichtermuse, in ihren Augen, als «dickliche, ältliche, magdliche Trutschel» herausstellte. «Möglicherweise wäre er ohne ihre sorgliche Pflege der Kunst früher entrissen worden», gab Adolf Frey zu bedenken, dessen Biografie nach Louise Meyers Willen nicht hätte erscheinen dürfen.

Die Beziehung zwischen der «misstrauischen» Ehefrau und Betsy Meyer wurde oft als Zickenkrieg dargestellt, der schwermütige Meyer als Opfer dreier manipulativer Frauen. Wäre es nicht an der Zeit, das Getratsche der Zeitgenossen zu hinterfragen und unparteiisch hinzusehen?

Das Ehepaar Meyer-Ziegler und die Tochter Camilla im Garten in Kilchberg, um 1883. (Bild: ZB Zürich)

Camilla Meyer – die Tochter

Meyer war 54 Jahre alt, als seine Tochter Camilla Elisabeth (1879–1936) auf die Welt kam. Ahnungsvoll schrieb er in einem Brief an Friedrich von Wyss: «Das Kindchen gleicht mir äusserlich auffallend. Wenn es mir auch in[n]erlich ähnlich sähe, würde es kein leichtes Leben haben.» Die «kleine Milly», über die er in seinen Briefen oft berichtete, streift auch durch seine Gedichte, zum Beispiel «Nach der ersten Bergfahrt».

Auf Fotos fallen Camilla Meyers traurige, fragende Augen auf. Als der Dichter 1892 seinen grossen Zusammenbruch hatte, stand sie erst am Übergang vom Schulmädchen zur Haustochter. Sie wurde von Zeitgenossen als umfassend gebildet, liebenswürdig und kränklich beschrieben, auch sie war zeichnerisch begabt.

Nach dem Tod ihrer Mutter und ihrer Tante übernahm Camilla Meyer die Verlagskorrespondenz und die Verwaltung des Dichternachlasses. 1916 heiratete sie den Landwirt und «Genussmenschen» Willem van Vloten, die Ehe wurde jedoch ein Jahr später geschieden. Am 16. Oktober 1936 wählte sie, wie ihre Grossmutter, den Freitod im Wasser.

Familie Meyer-Ziegler in ihrem Wohnhaus in Kilchberg. Fotografie von Rudolf Ganz, um 1895. (Bild: ZB Zürich)

Johanna Spyri – die Bestsellerautorin

Conrad Ferdinand Meyer kannte die beliebte Kinderbuchautorin Johanna Spyri (1829–1901) schon, als sie noch Hanni Heusser gerufen wurde, denn ihre Mütter waren befreundet. Nach ihrer Heirat besuchte Spyri den pietistischen Hauskreis von Meyers Mutter. Die Jugenderinnerungen verliehen ihrem späteren Austausch bei aller Verschiedenheit – und obwohl sie sich siezten – einen vertrauten Ton.

 Meyer suchte ab 1882 Spyris schriftstellerischen Rat, auch wenn er wusste, dass sie auf die Kraft des ersten Wurfs setzte. Gemäss einem Brief an Louise von François schätzte er ihre Klarheit, Gescheitheit und Goethe-Verehrung. «Ich stelle Heidi II sehr hoch», teilte er Spyri mit, «etwas so Naives, Strahlendes, Glückliches mit so wenig Stoff herzustellen, ist nicht jedermanns Sache». Sie wiederum schrieb ihm, seine Bücher höben sie stets «eine ganze Zeit lang über alle Widerwärtigkeiten der Alltäglichkeit in eine andere Welt». Ihr Briefwechsel 1877–1897 wurde 1977 ediert.

Fotografie aus dem Nachlass der Dichterin, worin sich auch die Briefe von Conrad Ferdinand Meyer befinden. (Bild: ZB Zürich, Hs FA 4aa: B 4)

Louise von François – die Romanautorin

Meyer korrespondierte zwischen 1881 und 1891 mit der deutschen Romanschriftstellerin Louise von François (1817–1893) in Weissenfels. Die verarmte, unverheiratete Adelige aus einem Hugenottengeschlecht lebte vom Schreiben und war 1871 mit dem Familienroman «Die letzte Reckenburgerin» auch in der Schweiz bekannt geworden.

«Mein Bruder liebte die charaktervollen Frauen, er suchte ein aus reinem, festem Sinn hervorgehendes unbestechliches Urteil», so erinnerte sich Betsy Meyer in einem Brief. Ihr Bruder tauschte sich mit Louise von François über seine Plots und Charaktere, neue Bücher oder sein «Christentum wider Willen» aus. Wie bei Johanna Spyri ging es ihm um einen geistreichen literarischen Austausch, um das Spitzen der eigenen Feder und seiner Gedanken.

Ihr Briefwechsel wurde 1905 erstmals veröffentlicht, obwohl sich Meyer 1894 dagegen ausgesprochen hatte.

Brief von Louise von François an Meyer, datiert mit Weissenfels, 2.1.1882. (Bild: ZB Zürich, Ms. CFM 331.23.8)

Buchrücken der 15-bändigen Werkausgabe von C. F. Meyer.

Dieser Beitrag stützt sich auf Originaldokumente aus Conrad Ferdinand Meyers Nachlass in der Handschriftenabteilung, Bildmaterial in der Graphischen Sammlung der ZB Zürich sowie auf Publikationen von und über Conrad Ferdinand Meyer. Möchten Sie Ihr Wissen weiter vertiefen?

Der Nachlass in der ZB Zürich:


Als Einführung in Conrad Ferdinand Meyers Biografie empfehlen wir:

Monica Seidler-Hux, wissenschaftliche Mitarbeiterin Handschriftenabteilung
April 2025

 

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Header-Bild: Collage mit Bildmaterial aus der Graphischen Sammlung der ZB Zürich.